Deutsche Ausgabe in 2 Bänden
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Diese Rezension bezieht sich auf die englische Originalausgabe, die unter dem Titel »The Scar« erschien. In Deutschland erschien der Roman in den beiden Bänden »Die Narbe« und »Leviathan« als Taschenbuch bei Bastei-Lübbe.
»The Scar«
MacMillan, TB
Titelbild von Edward Miller
London 2002, £7.99, 800 Seiten
»Die Narbe«
Bastei-Lübbe SF, TB 24320
Titelbild von Arndt Drechsler
Übersetzung aus dem Englischen: Eva Bauche- Eppers
Februar 2004, € 8,90
»Leviathan«
Bastei-Lübbe SF, TB 24322
Titelbild von Arndt Drechsler
Übersetzung aus dem Englischen: Eva Bauche- Eppers
März 2004, € 8,90
Trotzdem und gerade deswegen ist „The Scar“ die natürliche Weiterentwicklung seines bislang besten Romans. Hier nähert China Mieville unbewußt einem ganz anderen Literaten, der sich auch lange mit seinen Mitmenschen auseinandergesetzt hat, um schließlich zu seinen Lebzeiten in Armut zu sterben: Hermann Melville. Wie kein anderer wird er mit einem einzigen Buch „Moby Dick“ identifiziert, obwohl er zuerst seine eigenen Abenteuer in Form von Reiseberichten niedergeschrieben hatte ( die Trilogie „Tapi“, „Omu“ und „Whitejacket“ sei hier stellvertretend erwähnt) und dann kritisch mit der Gesellschaft die ihn verachtete umgegangen war („Maskeraden“ – sein letzter Roman).
Für viele Menschen ist die See geheimnisvoll; sie verbirgt unendlich viele Schätze und noch mehr Geschichten um Seeleute, Schiffe, Schlachten und untergegangene Städte, die alle unter der sich immer bewegenden Oberfläche verborgen sind. Ganze Generationen haben mit dem Meer gelebt und sind auf ihm gestorben. China Mievielle verbindet diesen geheimnisvollen Mythos mit seinen vielseitigen, unvollständigen, schwachen und dann doch wieder starken Charakteren, zu einem empfehlenswerten Leseerlebnis. Über weite Strecken hinweg erinnert „The Scar“ an ein skurriles Märchenbuch, bis sich Mieville dann wieder der Politik zuwendet und hier seine Erfahrungen aus der Kommunalpolitik verarbeitet.
Die Verbindung zu „Perdido Street Station“ besteht durch die Figur der Bellis Coldwine. Sie war für einige Zeit die Freundin von Isaac, dem Wissenschaftler aus „Perdido Street Station“, dessen Experimente das Unheil über die Stadt New Crobuzon brachten. Da nach Isaacs Verschwinden immer mehr Bekannte von der Staatspolizei (Stadtpolizei) abgeholt wurden und verschwunden blieben, flieht Bellis mit dem erstbesten Schiff, der TERPSICHORIA, aus der Stadt. Der größte Teil der menschlichen Fracht besteht aus Abschaum und Gefangenen, die einer ungewissen Zukunft als Dünger in einer entfernten Siedlung entgegensehen, nicht mehr menschlich und nur noch als Ware nützlich.
Unter den Gefangenen befindet sich Tanner Sack, dessen erste Bestrafung in den Bestrafungslagern von New Crobuzon stattgefunden hat: Ihm wurden zwei Tentakeln auf die Brust implantiert. Für ihn stellt die Reise auf dem Schiff die Chance da, nicht mehr menschlicher Abschaum zu sein, sondern in den Kolonien eine neue Aufgabe zu finden. Für ihn wird das Meer zu einer neuen Heimat.
Der Reisegesellschaft schließt sich sehr spät der geheimnisvolle Silas Fennec an, der mehr über die politischen Hintergründe in den einzelnen Teilrepubliken weiß, als er eigentlich zugeben möchte. Neben einer Statue, trägt er auch Informationen über eine anstehende Invasion New Crobuzons mit sich, die er möglichst schnell und unauffällig in die Stadt schmuggeln muß. Er selbst ist viel mehr als er scheint, mehr als ein geheimnisvoller Agent, mehr als ein Mensch, aber doch ein Opfer seiner Aufgabe, gefangen in der Pflichterfüllung und verstrickt in den Wahnsinn der Kriege.
Auf dem Weg zu ihrem Ziel wird das Schiff von Piraten überfallen, der Kapitän getötet und die Gefangenen freigelassen. Sie gelangen unter Druck in die sagenumwobene Stadt Armada, die aus einer unendlichen Zahl von Schiffen, die aneinandergekettet und gebunden sind (seit ewigen Zeiten kommen immer wieder neue Schiffe hinzu) besteht und über die Weltmeere treibt.
Hier finden die Gefangenen ein neues Dasein, eine neue Aufgabe und endlich eine Art von Freiheit. Sie müssen für ihren Lebensunterhalt arbeiten, aber die Bedingungen sind fair. Legenden berichten von einer Zeit, als die Stadt schon einmal ihre zugrundeliegende Existenz verändern wollte. Unter der Herrschaft der LIEBENDEN (einem sadomasochistischen Paar, die sich als Beweis ihrer Liebe gegenseitig Narben beibringen) möchte die ARMADA zu altem Ruhm zurückfinden und ist dabei bereit, alles zu opfern, um eine Legende zu erforschen: die SCAR, eine Narbe in der Welt, durch die der Mutige Zugang zu anderen Welten hat. Aber um die Narbe zu erreichen, muß der riesigen Stadt eine Art Motor gegeben werden. Und auch dazu sagen die alten Legenden einiges…
Auf den ersten zweihundert, dreihundert Seiten ist „The Scar“ ein Märchen, niedergeschrieben von einem Irren. Es sind wahnsinnige Träume von einer endlosen See, von Piraten, die menschlicher sind als die eigentlichen Herrscher des Planeten, von einer uralten, riesigen Stadt, für immer auf der Suche nach dem Paradies im Meer gefangen, und von vernarbten (innerlich wie äußerlich) Gestalten, die der der Erfüllung ihrer unterschiedlichen Träume nachjagen und am Rande der Verzweifelung stehen. Keine Freude ohne Tränen, keine Geschenk ohne Opfer, denn dazu ist das Leben in China Mievilles Roman zu grausam. Und trotzdem leben fast alle Figuren weiter, und wollen nicht aufgeben und suchen – wie die Liebenden – nur den einen, kleinen Moment in der Unendlichkeit, der ihnen Glück und einen kleinen Lichtstrahl voller Freude verspricht.
Aus dem Märchen wird dann aber in der zweiten Hälfte des Romans eine spannende Abenteuergeschichte mit Seeschlachten, Heldenmut und der Erkenntnis, daß das Leben zu vielseitig und verschiedenen ist, um nur aus einer Blickrichtung betrachtet zu werden.
„The Scar“ weist nicht die erzählerische Dichte von Mievilles zweitem Roman auf. Und das ist auch gut so, denn die Handlung wird nicht von den vielen Episoden, Querverweisen und Rückblenden erdrückt. Viele Ideen könnten aus der Feder Jules Vernes stammen, dem großen französischen Geschichtenerzähler und damit ist nicht gemeint, daß Mievielle etwa abgeschrieben hat. Er hat dem Leser den „sense of wonder“, das Überraschungselement zurückgegeben und nach Abschluß der Lektüre von „The Scar“ möchte man noch mehr Geschichten aus der unbekannten auf See treibenden Stadt mit ihren vielen unterschiedlichen Vierteln hören oder lesen, möchte den Wind um die Nase spüren und eintauchen in einer Zeit, die es nie gab und leider auch nicht geben wird. China Mieville ist ein natürlicher Erzähler, der gerne seine Geschichten spinnt und er benutzt viele Elemente aus der Sagen und Märchenwelt, um die Story zu erzählen, die er gerne als Kind gehört hätte.
Es wird Leser geben, die den Roman als Abstieg nach „Perdido Street Station“ empfinden, doch das Gegenteil ist eigentlich der Fall. Die Geschichte in „The Scar“ ist geradliniger, die Figuren vielschichtiger und die Motive tiefgründiger. Erst wenn der Leser das Buch zugeklappt und die Augen geschlossen hat, wird er den gesamten geschichtlichen Rahmen erfassen können und mit den Figuren noch einige Zeit leben, sich vorstellen, wie man selbst gehandelt hätte, um sich schließlich auf die nächsten Abenteuer zu freuen. Ähnlich wie Michael Moorcock wird sich Mieville mit seinen nächsten Romanen eine eigene Nische bilden und das ist zum einen sehr gut, denn der Leser weiß um die Qualität seiner Schreibe, zum anderen ist es aber auch schade, daß nicht mehr Autoren seinem Weg folgen und die ausgetretenen Pfade der Heroic Fantasy verlassen.