»Big Brother – Die Selbsthilfegruppe« von Till Frommann 290.62 Kb
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Zu wenig Fernsehsender! Scheiße, ich hatte einfach zu wenig Auswahl. Also zappte ich noch einmal durch die paar Programme, die ich hatte.
Fünf Talkshows! Uralte Serien, schon tausend Mal gesehen. Und dann diese dämlichen Musiksender – Hiphop, Dancefloor, Gitarrengeschrammel, Techno. Alles beschissen und langweilig.
Ich brauchte mehr Abwechslung. Oh ja, ich brauchte Digitalfernsehen. Unbedingt.
Mit Digitalfernsehen konnte man zwanzig mal so viele Fernsehsender sehen, Tendenz steigend. Mit tollen neuen Shows und spannender Unterhaltung. Alltag raus, Digitalfernsehen rein. Denn was gab es schon im Alltag, was mir das Fernsehen nicht auch bieten konnte?
Der Decoder verschlang ein halbes Monatsgehalt, aber was war schon Geld im Gegensatz zur Fernsehzukunft?
Und dann auch noch die monatlichen Gebühren: GEZ-Gebühren, Kabelfernsehgebühren, Pay-TV-Gebühren und so weiter und so fort, bla bla bla.
Aber was sollte es? Man lebte schließlich nur einmal.
Nachdem ich den Decoder angeschlossen hatte, starrte ich wie hypnotisiert auf meinen Panasonic-Fernseher.
Ein buntes Menü entflammte auf dem Bildschirm, und grüne flackernde Lichter, rote leuchtende Farben und modern gestaltete Logos lullten mich ein. Ich war zufrieden – die Fernsehzukunft war bunt!
Mehrere Menüpunkte boten sich an. „Fernsehsender nach Interessengebiet suchen“ – da hätte ich erst einmal darüber nachdenken müssen, was ich für Interessen hatte, aber ich wollte einfach nur ungestört fernsehen.
„Fernsehsendung suchen“ – das gefiel mir schon besser, denn ich wußte ganz genau, was für Serien und Shows ich sehen wollte.
Sex and Crime! Gewalt! Verbrechen! Und Titten!
Mit der Fernbedienung wählte ich einen Menüpunkt aus, und eine seitenlange Liste schoß mir entgegen.
Ich sah mir mehrere Stunden Actionserien an, die ich vorher noch nie gesehen und von denen ich auch noch nie etwas gehört hatte. Das Blut floß nur so über den Bildschirm, und es fehlte auch nicht an Sexszenen. Schon jetzt wußte ich, daß sich die teure Investition gelohnt hatte.
Auf jeden Fall bekam mich meine Frau in den nächsten Tagen kaum zu Gesicht, ich war viel zu sehr mit meinem Digitalfernsehen beschäftigt. Alles war gut und schön, und es hätte gar nicht besser sein können.
Doch dann entdeckte ich FTV, und der schöne Fernsehfrieden floß davon.
Ein lauter 08/15-Jingle flog direkt aus den Lautsprechern in meine Ohren und ließ mich wissen, daß ich in die „Highlights-Show“ gezappt hatte.
Highlights?, fragte ich mich. Jede Minute gab es im Fernsehen Highlights. Man wurde geradezu überschüttet mit Highlights.
Highlights hier. Highlights da. Highlights, wohin man auch zappte.
Ich wollte gerade etwas anderes aus dem bunten Strauß an Unterhaltung heraus picken, doch diesmal schien es sich nicht um eine dieser Pseudosensationen zu handeln.
Ich krallte mich an meiner Fernbedienung fest, weil ich nicht glauben wollte, was ich gerade auf dem Bildschirm zu sehen bekam.
„Carsten Hohendorf bei seiner alltäglichen Arbeit“, kommentierte eine Stimme aus dem Off das Geschehen.
Ich schaltete vor Schreck den Fernseher aus. Das war ich! Scheiße, warum gottverdammtnochmal war ich im Fernsehen? Das mußte ich erst mal verdauen. Vielleicht hatte mir auch einfach nur mein Hirn einen Streich gespielt – ich saß immerhin schon seit etwa neun Stunden fast ununterbrochen vor dem Fernseher, da konnte das gut der Fall sein.
Ich schaltete FTV wieder ein und mußte feststellen, daß ich nicht verrückt geworden war.
„Hättet ihr mal alle ein bißchen mehr gelernt“, sah ich mich meine Schulklasse ermahnen, während ich beobachten konnte, wie ich die vollgekritzelten Karoblätter verteilte, „besonders von dir, Christian, bin ich sehr enttäuscht. Mit Dezimalzahlen rechnen kann halt nicht jeder.“
Ich sah auf dem Fernseher, wie ich die Klassenarbeit an meine Schüler zurückgab, doch ich konnte das alles nicht glauben.
Warum zum Teufel war ich in dieser unheimlichen Highlightsshow?
Und dann konnte ich beobachten, wie ich meine geliebten Schüler zusammenschiß. Ohne Mathe würden sie im Leben versagen. Sie sollten sich gefälligst zusammen reißen. Ihren IQ überprüfen lassen. Und vor allen Dingen Mathe lernen.
Doch weshalb gab ich meinen Schülern die Klassenarbeit über Dezimalzahlen zurück? Und dann auch noch im Fernsehen?
Diese Klassenarbeit lag, soweit ich das beurteilen konnte, noch immer unkorrigiert auf meinem Schreibtisch – ich wollte sie erst heute nacht überprüfen.
Ein großes, rotes „F“ erschien auf meinem Fernseher, dann schoß ein schwarzes „TV“ aus dem Hintergrund hervor und ordnete sich brav rechts neben das „F“ ein.
„FTV“, hörte ich eine röhrige Männerstimme, „und die Zukunft ist Geschichte!“ Erschreckend. Was immer dieses „FTV“ war, es war erschreckend und faszinierend zugleich.
Auf meinem Fernseher sah ich, wie ich von der Schule nach Hause kam, meine Frau flüchtig begrüßte und mich sofort wieder vor die Flimmerkiste knallte.
Das war genau der gleiche Raum, in dem ich mich eben grade aufhielt. Alles stimmte! Der Teppichboden war genau der selbe, auf dem ich gerade saß, und auch die Möbel waren exakt die selben. Und mein Fernseher!
Ich konnte im Fernsehen beobachten, wie ich fern sah. Oder fernsehen würde. Oder wie auch immer. Jedenfalls war das verdammt unheimlich.
Ich sah mich in meinem Wohnzimmer fast paranoid um: Wo waren die verdammten Kameras, die mich filmten oder besser gesagt filmen würden? Ich konnte nirgendwo welche entdecken, aber das hatte nichts zu sagen. Kameras konnten winzig klein und sonstwo versteckt sein. Und wer sollte sie überhaupt in meinem Wohnzimmer versteckt haben? Und wieso? Ja, dachte ich mir, du wirst verrückt, Carsten, du wirst einfach nur verrückt. Gewöhn dich dran, das wird das Beste sein!
Doch nach einigen Tagen war FTV zu etwas ganz Normalem in meinem Alltag geworden. Die einstündige Sendung, die ich mir auf Abruf ansehen konnte, gehörte von nun an zu meinem Leben wie die starke Tasse Kaffee zum Morgen.
Die Highlightsshow zeigte mir alle wichtigen Ereignisse des nächsten Tages, und dank ihr konnte ich einige Probleme in meinem Leben umschiffen.
Zum Beispiel konnte ich in der Highlightsshow sehen, wie meine verehrten Kollegen über mich gelacht hätten, wenn ich ihnen von FTV erzählt hätte.
„Ja ja“, hätte Andreas Rehling, depressiver Deutsch- und Geschichtslehrer, gesagt, „und was wirst du uns als nächstes auftischen, Carsten? Daß dein Fernseher Arme und Beine hat und du mit ihm Gassi gehen mußt? Wie heißt er eigentlich, dein Fernseher?“
Ich hätte mich zum Gespött des gesamten Kollegiums gemacht, wenn ich diesem arroganten Rehling, dieser verdammten Laberfachlusche, von meiner neuesten Entdeckung erzählt hätte.
Doch FTV hatte mich gewarnt, und deshalb hatte ich niemandem erzählt, womit ich mich in meiner Freizeit beschäftigte.
In der ersten Woche, in der ich FTV sah, war ich verdammt aufgekratzt. Ich war sogar so sehr aufgekratzt, daß ich kaum schlafen konnte. Ich drehte mich im Bett hin und her, und meine Frau wachte immer wieder auf und brummelte, warum ich denn nicht schlafen würde.
„Kann nicht“, antwortete ich und lag bis zum Morgengrauen wach im Bett.
Aber ich wußte, daß ich irgendwann einschlafen würde, ich hatte es schließlich in der Highlightsshow gesehen.
Ich konnte nur nicht einschlafen, weil mich viele, schreckliche Fragen in meinem Kopf wachhielten: Wie konnte es angehen, daß FTV meinen nächsten Tag senden konnte? Wo waren die Kameras? Und konnten auch noch anderen Menschen FTV empfangen? Und wie verdammt noch mal funktionierte das alles?
Meine Frau war wieder eingeschlafen, doch ich lag immer noch hellwach neben ihr. Und wäre sie ein paar Wochen neben mir aufgewacht, hätte sie wahrscheinlich nicht so freundlich auf meine Einschlafprobleme reagiert.
Am nächsten Tag war ich hundemüde, doch dieser wunderbare Tag würde mein gesamtes Leben umkrempeln. In der Highlightsshow hatte ich nämlich gesehen, daß ich eine Kleinanzeige aufgeben würde, mit der ich andere FTV-Zuschauer suchte. Diese Idee fand ich so gut, daß ich die Anzeige schon an diesem Tag aufsetzte und bei der örtlichen Lokalzeitung abgab.
Vielleicht konnten ja wirklich noch andere Menschen FTV empfangen. Und vielleicht hatte jemand eine Theorie, wie dieser Fernsehsender den nächsten Tag senden konnte. Und vielleicht würde ich ja auch besser schlafen können, wenn ich mich mit anderen über diesen Sender unterhalten könnte.
Henry war der erste FTV-Zuschauer, der sich bei mir meldete. Ein schrecklicher Kerl! Er war mir schon unsympathisch gewesen, bevor ich ihn das erste Mal getroffen hatte. Er war um die dreißig, neunmalklug, und vor allen Dingen hieß er Henry.
Henry! Der Name sagte doch schon alles. Was für dämliche Eltern das sein mußten, die ihr Kind Henry nennen konnten. Aber zum Glück war das ja nicht meine Angelegenheit.
Henry hatte mich einen Tag später angerufen, nachdem ich die Kleinanzeige aufgegeben hatte, und am Nachmittag hatte er mich besucht.
Wir saßen beide in meinem Wohnzimmer, starrten auf den Fernseher und konnten nicht glauben, was wir sahen.
Erst war alles so wie immer: Willkommen bei der Highlight-Show, blablabla, Carsten Hohendorf macht dies und das, Carsten Hohendorf tut dieses und jenes.
Doch dann tauchte Henry in meiner Highlightsshow auf. In meiner Show! Es war meine Highlightsshow und nicht seine.
Nun hieß es Henry Soßnick hier und Henry Soßnick da und Henry Soßnick beim Einkaufen, und Henry Soßnick kocht für seinen Sohn Mittagessen. Ich fing an, diesen verdammten Henry Soßnick zu hassen, aber nach knapp fünf Minuten war ich wieder die Hauptfigur in meiner Highlightsshow.
Wir wandten unsere Blicke vom Fernseher ab und sahen uns an, doch wir konnten in unseren Gesichtsausdrücken erkennen, daß wir beide keine Erklärung für dieses Phänomen hatten.
Ich schaltete meinen Fernseher aus und war verwirrt. Das würde der erste FTV-Zuschauer sein, der sich auf meine Anzeige melden würde? So ein arroganter Schnösel würde mich morgen besuchen?
Das erste Treffen mit Henry Soßnick verlief jedoch nicht etwa so, wie ich es in der Highlightsshow hatte verfolgen können, sondern vollkommen anders. Er mußte nicht einmal mehr klingeln, denn ich öffnete die Tür pünktlich auf die Minute, und wir ersparten es uns auch, uns vorzustellen – wir kannten uns schließlich schon aus der Show. Und wir waren auch nicht mehr erstaunt darüber, daß einmal er und einmal ich fünf Minuten im Rampenlicht von FTV standen. Auch das hatten wir alles schon gesehen.
Statt dessen redeten wir über unsere Theorien, wie dieser neue Fernsehsender funktionieren konnte, doch wir lagen beide meilenweit daneben.
Wir waren in den kommenden Wochen zu einer siebzehnköpfigen Gruppe angewachsen, und ich hätte nie und nimmer damit gerechnet, daß so viele Menschen FTV sehen konnten, eigentlich hatte ich nämlich vermutet, daß ich der einzige Zuschauer war.
„Wir brauchen einen Namen für unsere Gruppe“, sagte ich, als wir uns wieder einmal in einer Dorfkneipe getroffen hatten. Meine Frau hatte ich ins Kino geschickt, denn sie hätte sich zuhause bestimmt gelangweilt, und unser Treffen hätte sie ganz sicher mit dämlichen Fragen gestört.
Wir waren vierzehn Männer, zwei Frauen und Henry, und sie sahen mich alle fragend an.
„Warum?“, fragte Oliver Rielke, der genauso dösig und nervig wie meine Schüler war und auch vom Alter her gut in eine meiner Klassen gepaßt hätte. „Warum, warum, warum! Alle Dinge brauchen einen Namen. Also hat jemand einen Vorschlag oder nicht?“
„Aber das ist doch Zeitverschwendung“, hörte ich jemand anders sagen, „können wir nicht weiter über unsere Erfahrungen mit FTV re-„
„Was Zeitverschwendung ist, bestimme ich“, fiel ich ins Wort, „immerhin habe ich die Gruppe gegründet.“
Es kamen ein, zwei weniger gute und eine mittelprächtige Wortmeldung.
„Ja ja“, sagte ich, „alles ganz nett. Aber was haltet ihr von ‚Big Brother‘?“
Henry fragte: „Wie in dem Roman von George Orwell?“, doch natürlich meinte ich die Unterhaltungssendung, die früher einen großen Erfolg gehabt hatte und dann immer mehr in Vergessenheit geraten war.
Ich erklärte, daß dieser Name gut auf unsere Gruppe passen würde, weil wir schließlich alle beobachtet wurden – denn irgendwo mußten schließlich die Kameras sein, die unseren zukünftigen Alltag filmten.
In der Highlightsshow hatte ich meiner Gruppe alles noch lang und breit erklären müssen, doch am nächsten Tag konnten wir uns wichtigeren Dingen widmen, weil sie die Diskussion über unseren Namen schon in ihrer eigenen Show gesehen hatten.
Niemand aus der Gruppe redete mit anderen Menschen über FTV, was auch nicht ganz so verwunderlich war. Ich hatte selbst in der Highlightsshow gesehen, was passiert wäre, wenn ich über einen Fernsehsender, der die Zukunft ausstrahlte, geredet hätte. Die geliebten Mitmenschen würden einen für verrückt erklären und vielleicht sogar wegsperren. „Was für ein durchgedrehter Typ“, würden sie denken, während sie den Schlüssel für die Gummizelle im Klo runterspülten, „es war eine gute Entscheidung, ihn lebenslänglich einzusperren. Er ist eine Gefahr für sich und seine Umwelt. Ein Fernsehsender, der die Zukunft sendet! Eigentlich eine lustige Wahnvorstellung. Dieser Irre ist ganz schön kreativ.“
Meine Frau wurde in den nächsten Tagen immer grummeliger und redete kaum noch mit mir. „Was hast du eigentlich?“, hätte ich sie gefragt, und ohne Vorwarnung hätte sie zu schreien angefangen. Sie hätte geschrieen und gekeift und gebrüllt, ich wußte überhaupt nicht, warum sie plötzlich so ausgetickt wäre.
„Was ich habe?“, hätte sie geschrieen, „was ich habe, willst du wissen? Frag mich doch lieber, was ich nicht habe“
Und das hätte ich auch getan. „Was hast du denn nicht?“, hätte ich gefragt, und dann wäre sie noch wütender geworden.
„Du hast überhaupt keine Zeit mehr für mich. Du triffst dich nur noch mit deiner komischen Gruppe.“
Einfach ignorieren, dachte ich mir, das wird sich schon wieder einrenken. Vielleicht hatte sie ja auch nur ihre Tage – das war die beste Erklärung, die mir für ihr aggressives Verhalten einfiel.
Wir beschäftigten uns bei den nächsten Treffen nicht mehr so ausführlich damit, wie FTV denn nun funktionieren würde, sondern redeten verstärkt über private Problemchen, die einige Mitglieder in ihrer Highlightsshow gesehen hatten. Ich versuchte alles, die Gespräche wieder auf den richtigen Kurs zu lenken, doch es klappte nicht so, wie ich es mir vorgestellt hatte.
„Ich habe in der Show gesehen, daß ich mich morgen mit meiner Tochter streiten werde“, sagte ein besorgter Vater in der Versammlung, „sie wird einfach so aus dem Haus rennen und die Tür hinter sich zuschmeißen und das nur, weil ich ihr sagen werde, daß sie lieber für die Schule lernen soll als sich mit Freunden zu treffen.“
„Im Zimmer einschließen und nicht mehr rauslassen, bis sie genug gelernt hat“, murmelte ich, und es kotzte mich an, daß „Big Brother“ langsam aber sicher zu einer Selbsthilfegruppe mutierte. Dafür hatte ich die Gruppe nämlich beim besten Willen nicht gegründet.
Aber Henry Soßnick wußte es natürlich viel, viel besser, und es schien ihm sogar Spaß zu machen, Erziehungstips zu geben. Er blühte regelrecht auf und erzählte, wie er es bei seinem fünfzehnjährigem Sohn gehandhabt hatte.
„Lassen Sie Ihre Tochter einfach das machen, was sie will. Sie wird schon sehen, was sie davon hat. Außerdem wird sie verwirrt sein, wenn Sie nicht ganz genauso reagieren, wie Sie es sonst tun.“
Mein heißgeliebter Henry entwickelte sich zu einem Kummerkastenonkel, und das Schlimme daran war, daß seine Meinung in der Gruppe gefragt war. Ich hatte das Gefühl, daß ich immer mehr in den Hintergrund rutschte.
Das einzig Praktische an den Versammlungen war, daß ich mit den Highlightsshows jetzt nicht nur einen Tag in die Zukunft blicken konnte, sondern gleich zwei. Denn weil wir in den Versammlungen besprachen, was am kommenden Tag geschehen würde und die Versammlungen in der Show übertragen wurden, erfuhr ich jetzt immer, was in zwei Tagen wichtig für die Mitglieder sein würde. Das war kompliziert, aber unglaublich praktisch.
Am nächsten Tag war die gesamte Big-Brother-Gruppe vollkommen aufgebracht, und sie begrüßten Henry Soßnick ganz so als wenn ein neuer Star geboren worden wäre. Und auch ich hatte gestern in der Highlightsshow gesehen, was unser geliebter Henry während unserer heutigen Versammlung verkündet hätte.
„Toll Henry“, sagte ich zu ihm, „da hast du dich ja richtig schön in den Mittelpunkt gemogelt.“
Doch er achtete gar nicht darauf, daß ich ihn beleidigt hatte, sondern sonnte sich einfach nur weiter in seinem Ruhm.
Er würde nämlich herausgefunden haben, wer für FTV verantwortlich war und hätte ihn für nächste Woche zu unserem Treffen eingeladen. Aber wahrscheinlich hatte unser Henry das alles schon gestern im Anschluß an die Highlightsshow erledigt.
Ich haßte diesen ekelerregenden Henry Soßnick so sehr, daß ich ihn am liebsten aus meiner Gruppe geschmissen hätte – aber dann hätten mich die anderen gehaßt, weil sie ihn doch ach so sehr liebten.
Bei mir zuhause wurde es zusätzlich dazu auch noch ein bißchen ungemütlicher – ich schlief jetzt auf der Couch neben dem Fernseher. Meine Frau hätte mich aus dem Schlafzimmer geschmissen, weil sie meine ständige Abwesenheit nicht aushalten würde, wie sie sagte, doch ich war freiwillig umgezogen. Schließlich hatte ich das Drama schon auf FTV beobachten können.
Und eigentlich hatte sie ja auch Recht: Ich verbrachte viel zu viel Zeit mit der Highlightsshow und meiner Gruppe, ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal etwas mit meiner Frau unternommen hatte. Scheiße, wann wird das gewesen sein? Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, und an meine beiden Söhne hatte ich auch lange schon nicht mehr gedacht. Wie es ihnen wohl ging?
Aber andererseits gab es im Moment wichtigere Dinge zu tun als sich um die Familie zu kümmern, denn immerhin würde uns nächste Woche Professor Brunici besuchen, und ich mußte mir überlegen, was ich ihm für schlaue Fragen stellen konnte. Ich wollte nämlich in vollem Glanze vor meiner Gruppe glänzen. Wenn ich schon nicht mehr im Mittelpunkt stand, wollte ich ihnen wenigstens beweisen, daß ich etwas mehr auf dem Kasten hatte als sie alle zusammen.
Dann war es endlich soweit, und der große Tag war gekommen. Ich hatte für einen fröhlichen Fernsehabend gesorgt, hatte es mir mit Popcorn und Cola auf der Couch gemütlich gemacht und schaltete die Highlightsshow ein.
Das rote „F“ tauchte auf, das schwarze „TV“ schoß aus dem Hintergrund hervor, und der allseits bekannte Slogan „FTV – Und die Zukunft ist Geschichte!“ erklang aus den Lautsprechern. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Endlich würde ich erfahren, wie FTV funktionierte! Der Augenblick, auf den ich seit Monaten gewartet hatte, war zum Greifen nahe, und für einen kurzen Augenblick vergaß ich auch, daß nicht ich Professor Brunici ausfindig gemacht hatte, sondern dieser gottverdammte Henry.
„Guten Tag“, begrüßte der Professor sein Publikum, das sich im Festsaal unserer Kneipe zusammengefunden hatte, und der Professor sprach akzentfrei deutsch, obwohl ich vermutet hatte, daß er seine italienische Herkunft nicht völlig verbergen könnte, „wenn ich mich kurz vorstellen darf: Ich bin Professor Brunici und war für die Entwicklung der ersten Digitaldecorder verantwortlich. Des weiteren möchte ich Sie beglückwünschen, daß Sie das Glück haben, einige der wenigen Menschen zu sein, die FTV empfangen können.“
Der Professor sah überhaupt nicht so aus, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Ich hatte damit gerechnet, daß er wie eine Mischung aus dem Sesamstraßen-Professor und Q aus James Bond aussehen würde, versehen mit einem leichten italienischen Touch, aber er wirkte eher durchschnittlich, vielleicht sogar ein bißchen spießig.
„Wie so viele andere Gruppen vor Ihnen auch haben Sie mich eingeladen, damit ich Ihnen erkläre, wie dieser Fernsehsender funktioniert, und wahrscheinlich haben Sie selbst schon diverse Theorien ausgearbeitet.“
Ja, das hatten wir, und ich hatte die wohl schlüssigsten und am besten entwickeltsten Ideen, wie FTV funktionieren könnte.
„Aber glauben Sie mir“, setzte Professor Brunici seinen Vortrag fort, „wie diese Technologie wirklich arbeitet, haben Sie sich bisher in Ihren kühnsten Vorstellungen nicht ausmalen können.“
Quatsch, dachte ich, eine meiner vielen Theorien würde schon annähernd der Realität entsprechen. In der letzten Woche hatte ich mir noch ein paar Gedanken mehr als sonst gemacht, damit ich nach dem Vortrag sagen könnte, daß ich auch schon auf diese Möglichkeit gekommen war. Ich nahm eine Hand voll Popcorn aus dem Eimer neben mir, ohne meinen Blick vom Fernseher abzuwenden, knabberte etwas darauf herum und spülte den trockenen Maisgeschmack mit der Cola herunter.
Der Professor sollte gefälligst kurz und knapp sagen, wie dieser beschissene Fernsehsender unsere Zukunft senden konnte und nicht so lange um den heißen Brei reden, aber leider malte er seine Lebensgeschichte noch etwas weiter aus.
„Vielleicht sollte ich Ihnen zuerst einmal beichten, daß mir meine Firma wegen FTV gekündigt hatte und daß der dafür verwendete Z-Chip nur noch in der ersten Decoderserie verwendet wurde. Nach meinem Rausschmiß hatten die verantwortlichen Techniker diesen Chip aus den folgenden Serien entfernen lassen, und anscheinend hatten Sie, verehrtes Publikum, das Glück, daß Sie noch einen alten Decoder mit Z-Chip erlangen konnten.“
Die Kamera schwenkte in Vogelperspektive über die Zuhörer, und für einen kurzen Augenblick konnte ich mich auf dem Fernseher zwischen den anderen sechzehn Gruppenmitgliedern ausmachen.
„Wahrscheinlich“, so sagte Brunici, „vermuteten meine Arbeitgeber, daß der Z-Chip gesundheitsschädigend sein könnte, aber ich schwöre Ihnen hoch und heilig, daß dem nicht so ist.“
Das hörte sich jetzt genauso an wie die zigtausend Diskussionen, in denen es darum ging, wie gesundheitsschädigend Fernsehen doch sein konnte.
Fernsehen ist nicht gut für die Augen! Setz dich etwas weiter weg vom Fernseher! Fernsehen läßt dich abstumpfen und verblöden! Fernsehen macht phantasielos! Bla, bla, bla!
Natürlich war FTV nicht gesundheitsschädigend. Wenn der Professor sagte, daß der Z-Chip nicht gesundheitsschädigend war, dann war der Z-Chip nicht gesundheitsschädigend. Punkt. Ende. Aus. Keine weitere Diskussion mehr nötig.
Professor Brunici machte eine kurze Pause, atmete tief durch, und dann erklärte er, wie der mysteriöse Z-Chip die Zukunft berechnen und senden konnte. Und er hatte Recht damit gehabt, daß ich mir nicht einmal in meinen kühnsten Vorstellungen ausgemalt hatte, wie dieser Chip und damit auch FTV wirklich funktionierte.
Am nächsten Tag kam der Professor leibhaftig in den Festsaal der Kneipe und begrüßte meine Gruppe. „Noch Fragen?“, fragte er, und tatsächlich wollten einige Mitglieder trotz des ausführlichen Vortrags in der Highlightsshow etwas von Professor Brunici wissen.
Ob es denn nun wirklich nicht ungesund sei, FTV zu sehen, wollte jemand wissen. „Ich meine“, erklärte der krankhaft Ängstliche seine Sorge, „es hört sich schließlich wirklich nicht besonders gesund an, daß der Z-Chip irgendwelche Informationen aus meinem Gehirn raussaugt.“
Doch Professor Brunici beruhigte ihn. „Es gibt zwar keine wissenschaftlichen Testreihen, die bestätigen, daß es keine gesundheitlichen Nachteile durch das Einschalten und Anschauen von FTV gibt, aber ich hoffe, daß Sie mir ganz einfach glauben – immerhin habe ich den Z-Chip mitentwickelt, und wenn nicht ich es weiß, wer soll es dann wissen? Weitere Fragen?“
„Woher kommen die Jingles und die Ansagen in der Highlightsshow?“
„Teilweise vorprogrammiert, teilweise aus Ihrem Gehirn generiert. Gibt es weitere Unklarheiten?“
Nun meldete ich mich zu Wort. „Keine Frage in diesem Sinne, Herr Professor, aber vielleicht ein nützlicher Vorschlag. Sie sprachen davon, daß es noch andere Gruppen wie unsere Big-Brother-Gruppe gibt?“
Professor Brunici bejahte das.
„Und gibt es noch mehr Gruppen, die sich von Ihnen aufklären lassen wollen?“
Auch diese Bemerkung stimmte. „Siebzehn weitere Gruppen erbaten einen weiteren Vortrag über FTV von mir“, sagte der Professor.
Ich war gut! Ich war sogar sehr gut! Ja, lobte ich mich selbst, ich hatte meine Hausaufgaben wirklich perfekt gemacht, und aus diesem Grund setzte ich ein selbstsicheres Lächeln auf.
„Wäre es nicht viel zeitsparender, einen einzigen Vortrag zu halten, anstatt von Stadt zu Stadt und von Gruppe zu Gruppe zu fahren und immer wieder die gleichen Dinge erzählen zu müssen?“
Der Professor schien zu verstehen. „Sie meinen also, daß man eine einzelne Veranstaltung mit allen verbleibenden Gruppen abhalten sollte?“
Ich nickte, und ich freute mich, daß nun doch wieder alle Augen auf mich gerichtet waren und ich Henry Soßnick wieder in den Hintergrund gedrängt hatte.
Professor Brunici hatte meinen Vorschlag gelobt und unter der Bedingung akzeptiert, daß ich mich um den organisatorischen Ablauf kümmern müsse. Er selbst habe in nächster Zeit nämlich viel zu viele andere Dinge zu tun, die Entwicklungen neuer Erfindungen mußten von ihm beobachtet werden, und er hätte seine Vortragsrundreise sowieso erst in ein paar Monaten fortsetzen können.
Also versank ich in den nächsten Tagen geradezu in Arbeit. Professor Brunici hatte mir die Telefonnummern der anderen Gruppenleiter gegeben, und ich war damit beschäftigt, meine Telefonrechnung in die Höhe zu treiben. Ich telefonierte mich durch die halbe Weltgeschichte – die Gruppen waren über ganz Deutschland verteilt – und machte mit ihnen einen Termin für das große Treffen klar.
Der Ort für den Vortrag des Professors stand bereits fest, und warum nicht Berlin? Ein großes Treffen brauchte einen großen Ort.
Alle Gruppen, die ich bisher eingeladen hatte, hatten mit Begeisterung zugesagt, und auch bei unseren täglichen Big-Brother-Treffen machte sich Nervosität gepaart mit merklicher Vorfreude breit.
Zwar hatten einige aus meiner Gruppe Einwände, was den Ort betraf („Berlin? Warum denn Berlin?“ – „Viel zu weit weg!“ – „Ganz schön dreckige Stadt!“ – „Warum nicht hier bei uns in der Kneipe?“), aber was ich entschieden hatte, hatte ich entschieden.
Und das ganze Herumorganisieren beanspruchte wirklich viel Zeit. Ich setzte mich sofort an den Schreibtisch nachdem ich aus der Schule gekommen war, feilte an der Rede herum, die ich beim großen Treffen halten würde und telefonierte mich durch die Gruppenliste durch. Mein Schulkrempel lag irgendwo zwischen den Redeentwürfen, den Notizen, der Telefonliste und den Berliner Gelben Seiten, in denen ich nach einem geeignetem Veranstaltungsort für das Treffen gesucht hatte.
Dann mußten meine Schüler eben ein, zwei Wochen länger auf ihre Klassenarbeiten warten! Was war daran so schlimm, daß sie etwas länger auf ihre miserablen Ergebnisse warten mußten? Also bitte! Man mußte halt Prioritäten setzen.
An einem Nachmittag hätte mich meine Frau stundenlang vom Arbeiten abgehalten, wenn ich nicht vorsorglich die Tür von meinem Arbeitszimmer abgeschlossen hätte. In der Highlighsshow hatte ich gesehen, daß sie ansonsten eine Grundsatzdiskussion angefangen hätte.
Daß ich zu wenig Zeit für sie hätte. Immer nur meine komische Gruppe. Und dieser komische Fernsehsender.
Fast zwei Stunden hätte sie auf mich eingeschrieen, was ich doch für ein verdammtes Arschloch wäre und ob ich überhaupt noch merken würde, wie wenig wir beide überhaupt noch miteinander zu tun hatten.
Jedenfalls war ich verdammt froh, daß ich meine Arbeitszimmertür an diesem Tag abgeschlossen hatte, so war ich einer Menge Ärger aus dem Weg gegangen. Aber leider war aufgeschoben noch immer nicht aufgehoben, und manchmal wünschte ich mir, daß ich mich an diesem einen Tag mit meiner Frau gestritten hätte – das hätte alles ein wenig vereinfacht.
Eine Woche später war ich fast fertig mit allem, was ich zu erledigen hatte. Ich hatte alle siebzehn Gruppen zum großen Treffen eingeladen, hatte einen passenden Ort für den Vortrag von Professor Brunici gefunden, und meine Rede war auch so gut wie fertig. Hier und da mußte noch ein bißchen herumgefeilt werden, aber das waren Kleinigkeiten.
Ich malte mir aus, wie toll es werden würde, wenn ich vor dem riesigen Publikum meine Gedanken verbreitete. Alle würden mir gebannt zuhören! Ich wäre der Star des Abends! Ich – und natürlich auch Professor Brunici.
Doch dann sah ich etwas wirklich Erschreckendes auf FTV, und irgendwie war es doch sehr beruhigend, daß ich die Big-Brother-Gruppe gegründet hatte und daß es dort jemanden wie Henry Soßnick gab.
Wir hatten uns an diesem Abend wie immer in der Kneipe getroffen, aber die anderen schickte ich nach ein paar Minuten wieder weg.
„Haut ab“, sagte ich ihnen, „ich habe was mit Henry zu bereden, und da würdet ihr sowieso nur stören. Also geht bitte wieder nach Hause. Und bitte entschuldigt, daß ich euch nicht schon vorher gesagt habe, daß aus dem Treffen heute abend nichts wird.“
Erst meinten einige aus der Gruppe, daß ich sie doch nicht einfach wegschicken könnte. Aber irgend etwas in meinem Blick ließ sie erkennen, daß es mir wirklich wichtig war, mit Henry unter vier Augen zu sprechen, und genau das erschrak mich. Ich fand es unheimlich, daß man mir ansah, wie verstört und unglücklich ich war, und zusätzlich dazu war es abgrundtief schrecklich, daß ich freiwillig mit Henry reden wollte. Das sagte ja schon einiges darüber aus, wie schrecklich es mir ging. Mit Henry Soßnick reden! Und das dann auch noch unter vier Augen. Ganz intim! Aber es wäre mir zu peinlich gewesen, wenn ich Henry vor versammelter Mannschaft um Hilfe gebeten hätte.
„Was gibt´s denn, Carsten?“, fragte er. „Du siehst ganz schön fertig aussehen.“
Na vielen Dank auch!
„Es ist wegen meiner Frau“, erklärte ich, „ich würde ihr morgen sagen, daß ich für zwei Tage nach Berlin fahre. Und dann“, es war schwer für mich, so sachlich und ruhig zu wirken und meine Gefühle so wenig wie möglich durchkommen zu lassen, „hat sie nichts mehr gesagt und hat ihre Koffer gepackt. Und das wär´s dann gewesen.“
Ich machte eine kurze Pause, um Luft zu holen.
„Ich hätte dann noch mal versucht, so gut wie es eben ging mit ihr zu reden, aber sie hat einfach weiter ihre Sachen in den Koffer geworfen. Und dann hätte sie gemeint, daß sie sowieso schon lange mit dem Gedanken gespielt hatte, in eine eigene Wohnung zu ziehen.“
„Und deswegen willst du jetzt mit mir sprechen?“, grinste Henry Soßnick über beide Ohren.
Was für ein Arschloch! Er wußte, daß ich ihn jetzt brauchte. Und ja, ich bereute es, daß ich mich hin und wieder über seine Ratschläge lustig gemacht hatte, die er den anderen gegeben hatte. Hätte ich denn wissen können, daß ich auch mal in die Lage kommen könnte, in der ich einen therapeutischen Tipp von unserem großartigen Psychologiehenry brauchen würde?
Er saß am Kneipentisch, schaute mir in die Augen und grinste. Ich haßte das, aber er war der einzige, der mir jetzt noch helfen könnte. Meine Frau würde mich verlassen, und das wollte ich nicht. Sie war meine Frau, und obwohl ich in den letzten Monaten kaum Zeit für sie gehabt hatte, liebte ich sie, das wußte ich ganz genau.
Und dann redete er mit mir über die ganze, beschissene Misere, in der ich steckte, erklärte mir, was ich doch alles falsch gemacht haben sollte, wie ich das doch alles hätte besser machen können und was ich denn nun tun sollte.
Er nahm sich tatsächlich Zeit für mich! Er nahm sich Zeit für einen Kerl, der ihm ständig auf der Nase herumgetanzt war, der seine Späßchen über ihn gemacht hatte und der ihm tagtäglich zu spüren gab, wie sehr er ihn haßte.
„Eigentlich kannst du doch gar kein schlechter Mensch sein, wenn du dir solche Sorgen um deine Frau machst“, sagte Henry. Und wo er Recht hatte, hatte er Recht: Ich war ganz und gar kein schlechter Mensch.
Henry arbeitete die ganze Situation mit mir durch und gab mir am Ende nicht nur eine Anweisung, was ich denn nun tun sollte, sondern überzeugte mich vollkommen davon. Er hätte auch gut und gerne in die Werbung gehen können, so gut hatte er mich überzeugt.
Erst hatte ich hier und da noch Widerworte gegeben, weil ich auf so viel verzichten müßte, wenn ich meine Frau zurückerobern wollte, aber dann wurde mir immer klarer, daß es wirklich keinen anderen Weg gab.
Eines war mir klar geworden: So wenig ich ein schlechter Mensch sein konnte, so wenig konnte Henry Soßnick ein hassenswerter Mitmensch sein. Es wurde Zeit, daß ich mein Weltbild noch einmal überdachte.
Ich stand vor dem Spiegel und kämmte meine Haare. Vorher hatte ich mich ausgiebig geduscht und ein verdammt edles und verdammt teures Parfüm benutzt – ich hatte schließlich allen Grund, um mich aufzutakeln. Mein Kopf! Ich betrachtete ihn mit einer gewissen Skepsis im Spiegel. Ja, dachte ich, es war alles schon hier drin.
Ich rückte die Krawatte zurecht, dann berührte ich meine Stirn mit dem Zeigefinger. Es hatte ein paar Tage gebraucht, bis ich mich an den Gedanken gewöhnt hatte, daß der Z-Chip mein Gehirn nach Informationen über den nächsten Tag durchstöberte. Ich hatte mich drei Tage lang nicht getraut, FTV anzuschauen, aber dann hatte ich den Fernsehsender doch wieder eingeschaltet. Immerhin hatte Professor Brunici ausdrücklichst betont, daß es wirklich nicht gesundheitsschädigend sein würde.
In einer halben Stunde würde meine Frau von ihrer Arbeit zurück kommen, und dann würde ich sie mit einem Essen in einem Fünf-Sterne-Restaurant überraschen. Die Eröffnungsrede vom großen Treffen hatte ich Henry Soßnick überlassen. Was sollte es? Man mußte schließlich Prioritäten setzten, was wichtig und was unwichtig im Leben war. Er war neben mir der Beliebteste in der Big-Brother-Gruppe, und er würde die Rede mit Bravour meistern, keine Frage. Es war mir zwar schwergefallen, mich dazu durchzuringen, ihm die Rede zu schenken, aber nur so würde ich mein vernachlässigtes Liebesleben wieder auf Vordermann bringen können. Immerhin hatte mir Henry versprochen, daß er mir seine Highlightsshow auf Video aufnehmen würde.
Ja, dachte ich noch einmal, es war alles hier drin in meinem Kopf, und die Gegenwart und die Zukunft waren schon immer Geschichte gewesen.
Ende
© Till Frommann, 2001
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Der Autor:
Braunschweig auf. Schon in der Grundschule fing er an, sich Geschichten
auszudenken und aufzuschreiben. Er schrieb viele Gedichte und
Kurzprosa, aber auch Kurzgeschichten und Erzählungen. Frommann studiert
seit 1998 Philosophie, Soziologie und Politologie in Braunschweig und
arbeitet als freier Mitarbeiter für die Lokal- und Computerredaktion
einer Regionalzeitung.
»Big Brother – Die Selbsthilfegruppe« von Till Frommann 290.62 Kb
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