Uwe Hermann – Der Spiegelmann

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»Der Spiegelmann« von Uwe Hermann
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„Zwei Millionen Euro?“ Diese Summe verschlug mir für einen Moment die Sprache. Ich hatte zwar mit einer übertriebenen Schmerzensgeldforderung gerechnet, doch nicht in dieser Größenordnung.
Um dieser Summe gerecht zu werden, hätte meine Beam-Box ihren Passagier schon zu Hackfleisch verarbeiten müssen, doch der kahlköpfige Mann, der in seinem beigen Cordanzug vor mir saß und mich unentwegt mit seinen Blicken beschimpfte, schien vollkommen unversehrt. Keinen Gips, keinen Verband, ja nicht einmal einen Kratzer konnte ich an seiner Gestalt entdecken, die so mager war, als bestünde seine Tagesration an Lebensmitteln nur aus zwei Vitamintabletten. Ich konnte mich des Verdachts nicht erwehren, als ob Philip Brandt, so hieß der Mann, auf diese plumpe Art nur versuchte, an mein Geld zu kommen. Normalerweise hätte ich nicht einmal diesem Schlichtungsgespräch zugestimmt, doch ausgerechnet jetzt stand der erste Börsengang meiner Firma an und da konnte ich mir keine negativen Schlagzeilen leisten… was aber nicht bedeutete, daß ich bereit war, diese horrende Summe zu bezahlen. Das sagte ich ihm auch.

Brandt schaute mich an, als würde er mich für alle Probleme in seinem Leben verantwortlich machen. Er schwieg – er hatte die ganze Zeit, seit er mein Büro betreten hatte geschwiegen. Auf dem Stuhl neben ihm, gekleidet in einem teuren, maßgeschneiderten Anzug, saß ein Advokat-Droide. Sein chromglänzendes Gesicht war unbeweglich als er sprach: „Zwei Millionen Euro sind eine angemessene Entschädigung für die seelischen und körperlichen Schäden, die mein Mandant durch Ihr Transportsystem davongetragen hat.“
Ich schnappte nach Luft.
„Herrgott, welche Schäden denn? Laut den medizinischen Gutachten zweier unabhängiger Spezialisten ist Ihr Klient kerngesund; abgesehen von einer leichten Erhöhung des Cholesterinspiegels, aber das können Sie ja wohl kaum meiner Beam-Box anlasten.“

In die Gestalt des wortkargen Mannes kam Bewegung. Zornbebend zog er ein Diktiergerät aus seiner Jackentasche, führte es an seinen Mund und nuschelte unverständliche Worte hinein. Dann hielt er es mir entgegen und schaltete es ein.
„Wollen Sie damit behaupten, daß ich nur simuliere?“ quakte es aus dem kleinen Lautsprecher des Diktiergerätes.
„Ich will damit gar nichts behaupten“, sagte ich schnell, da ich wußte, daß der Advokat-Droide jedes meiner Worte aufzeichnete und vor Gericht gegen mich verwenden würde. „Ich habe lediglich die Meinung der Gutachter wiedergegeben.“
Brandt sprach erneut in sein Diktiergerät, und langsam kamen mir Zweifel, ob die Gutachter im Bezug auf seinen seelischen Gesundheitszustand nicht vorschnell geurteilt hatten.
„Sie haben mein ganzes Leben ruiniert. Ihr Transportsystem ist eine Gefahr für jeden Menschen und gehört verboten.“
Bevor Brandt weitere Beschimpfungen aufzeichnen konnte, unterbrach ihn der Advokat-Droide.
„Wenn Sie die Gutachten aufmerksam gelesen haben, ist Ihnen doch sicher aufgefallen, daß von einer Anomalie im Subatomarenbereich die Rede ist.“
Ich runzelte die Stirn.
„Na und? Das ist doch wohl nicht die Schuld meiner Beam-Box.“
Statt auf meine Frage zu antworten, drehte der Advokat-Droide den Kopf – es quietschte leise – und er schaute seinen Klienten an.
„Herr Brandt, würden Sie bitte mit eigenen Worten erzählen, was ihnen widerfahren ist“, sagte er.
Der hagere Mann warf mir einen giftigen Blick zu, dann holte er aus der Innentasche seines Jacketts eine kleine Datenkassette, die er gegen die, in seinem Diktiergerät austauschte. Als er auf Wiedergabe drückte, hörte ich seinen Bericht: „Es war am 17. August, kurz vor dreizehn Uhr. Ich war auf dem Weg zu einer Verabredung, und weil ich es eilig hatte, benutzte ich eine öffentliche Beam-Box. Ich verriegelte die Tür, wählte im Tastenfeld meinen Zielort und ließ die Kosten von meiner Kreditkarte abbuchen. Sofort, als ich den Aktivierungsbutton gedrückt hatte, spürte ich, daß etwas nicht so war, wie sonst. Die Beam-Box zerlegte meinen Körper in seine Atome und schickte sie an ihr Ziel, und eigentlich hätte ich nichts davon spüren dürfen, doch ich fühlte mich, als ob die einzelnen Moleküle verschiedene Wege einschlagen würden. Als ich aus der Empfangsstation taumelte, war ich orientierungslos und brabbelte nur noch unverständliches Zeug. Jemand brachte mich in ein Krankenhaus, wo mir eine Schwester einen Stift und einen Schreibblock reichte, damit ich mich wenigstens auf diese Weise verständlich machen konnte. Als ich meinen Namen aufschreiben wollte, begriff ich plötzlich, was mit mir geschehen war.
Vor meinem Unfall war ich Rechtshänder, nun konnte ich meinen Namen nur noch mit links schreiben – außerdem schrieb ich vom Satzende zum Satzanfang.“
Mit jedem Wort hatte ich Augen und Mund weiter aufgerissen, nun hatte ich das Gefühl, als ob mein Unterkiefer auf die Schreibtischplatte aufschlug.
„Die Beam-Box hat meine Atome am Zielort spiegelverkehrt zusammengesetzt; eine andere Erklärung gibt es nicht.“
Das Band endete, und der Mann schaltete sein Diktiergerät mit einem leisen Klicken aus.
„Das ist vollkommen ausgeschlossen, meine Beam-Box ist absolut sicher“, widersprach ich energisch und fügte im Gedanken hinzu: Zumindest so sicher, wie es sich finanziell vertreten läßt.
Brandt sprang aus seinem Stuhl hoch.
„?nib regürteB nie hci ßad ,neßieh sad lloS“ schrie er.
Ich spürte, wie sich meine Nackenhaare steil aufrichteten.
„Mein Klient kann sich nur noch mittels eines umgebauten Diktiergerätes verständigen, daß die aufgezeichneten Sätze rückwärts wiedergibt“, erklärte der Advokat-Droide.
„.tah thcameg rim sua xoB-maeB erhI saw ,trhäfre tleW ella ßad ,negros rüfad edrew hci dnu ,aJ“
Obwohl ich keines seiner Wort verstand, konnte ich mir ziemlich genau vorstellen, was er mir an den Kopf geworfen hatten. Ich sah, wie meine Aktien in den Keller gingen, noch bevor sie überhaupt an der Börse gehandelt wurden.
Vielleicht waren zwei Millionen Euro doch nicht zu viel? Am wichtigsten war jetzt, daß ich alles verhinderte, was meinen Börsengang negativ beeinflussen konnte.
Schließlich seufzte ich.
„Also gut, obwohl ich betonen möchte, daß meine Beam-Box nichts mit Ihrem Unfall zu tun hat, bin ich bereit, die geforderte Summe zu zahlen. Allerdings nur, wenn Sie eine Erklärung unterzeichnen, daß mein Transportsystem nicht Schuld an Ihrem derzeitigen Zustand ist.“
„nednatsrevniE“, sagte der Mann und nickte zustimmend.

Ich versuchte zu verbergen, wie erleichtert ich war, als Brandt ein paar Tage später, kurz vor der Presseerklärung, die den Börsengang einleiten würde, das Dokument unterschrieb. (Obwohl er in Spiegelschrift unterzeichnet hatte, versicherte mir der Advokat-Droide, daß die Erklärung vor Gericht rechtskräftig sein würde)
Nachdem Brandt und der Advokat-Droide gegangen waren, betrachtete ich mich ein letztes Mal im Garderobenspiegel. Als ich mit meinem Äußeren zufrieden war, trat ich in die Beam-Box, die mich direkt ins Pressezentrum bringen würde.
Statt würdevoll, wie ich es geplant hatte, stolperte ich aus der Beam-Box des Empfängers.
Als die Journalisten mich sahen, herrschte schlagartig eine vollkommene Stille – dann kreischte eine Frau los. Erst jetzt bemerkte ich, daß etwas an mir nicht stimmte.

Es war nicht mein Aussehen, daß mir Kopfzerbrechen bereitete, – ein fähiger Arzt würde das mit ein paar Schönheitsoperationen schon wieder hinbekommen, – viel Schlimmer war, daß ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich den Journalisten erklären sollte, daß ich keinen linken Arm mehr besaß – dafür aber zwei rechte…

– Ende –

© Uwe Hermann, 2000
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Zum Autor

Uwe Hermann, geboren 1961 in Sulingen, einer kleinen Stadt in Niedersachsen, wuchs auf mit einem unbändigem Hang zum lesen. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis er dem Schreiben verfiel. Erste Kurzgeschichten wurden in verschiedenen Magazinen abgedruckt, und mit der Zeit wurden es immer mehr, bis sie ein ganzes Buch füllten. Wenn Uwe Hermann gerade nicht schreibt, trainiert er eine Judo-Kindergruppe.
Die erste veröffentlichte Kurzgeschichte war „Cyrarurr, der Söldner“ erschienen auf der Perry Rhodan Leserkontaktseite. Nach einigen Kurzgeschichten für verschiedene Fanzines., folgten zahlreiche Veröffentlichungen in der Computerzeitschrift c’t des Heise-Verlags. „Nichts als Ärger mit dem Tod“ wurde 1999 für den „Deutschen Science Fiction Preis“ nominiert.
Im Herbst 1999 erschien die Kurzgeschichtensammlung „Die Abteilung für vorhersehbare Unvorhersehbarkeiten“, Verlag im Institut Drachenhaus, ISBN 3-932207-07-6.