Albert Daiber – Die Weltensegler

  Die Weltensegler
 

Verlag Dieter von Reeken
Books on Demand, Norderstedt
ISBN 3-8334-1586-X
Nachdruck der um 1910 erschienenen Erstausgabe im Neusatz
August 2004, 12,90 Euro, 146 Seiten

Die utopische Literatur deutscher Autoren vor dem Ersten Weltkrieg, dem Krieg, der die herrschenden Machtgefüge im alten Europa aus den Angeln hob, ist so gut wie unbekannt. Wenige Sammler stellen einzelne Werke vor, doch die Unzugänglichkeit der literarischen Erzeugnisse zu vernünftigen Preisen und die heute für die meisten Interessierten kaum zu lesende Frakturschrift stellen natürliche Hindernisse in Bezug auf eine Wiederentdeckung dar. Der Kleinverlag Dieter von Reeken legt mit "Die Weltensegler" von Albert Daiber als dritten Band seiner Neudrucke einen unterhaltsamen und längst in Vergessenheit geratenen Roman aus der Zeit des Kaiserreichs vor.

Versehen mit
einem sehr informativen Vorwort des Herausgebers, dessen Nachforschungen bis zu den in Chile wohnenden Nachkommen Daibers reichten, besticht der Roman zu Beginn durch eine bunte Schilderung des Schwabenlandes. Heute fällt manchem Leser spontan der Werbeslogan "Wir können alles außer Hochdeutsch" ein, um die hier beschriebene Szenerie mit ihren liebevollen Details zu charakterisieren.
Im Gegensatz zu z.B. Kurd Laßwitz‘ umfangreichem Roman "Auf zwei Planeten", fällt bei Daiblers "Bericht für die reifere Jugend" die sehr konzentrierte und nicht minder knappe Aneinanderreihung von spannenden Episoden auf: da ist zum einen die Reise zum Mars mit all ihren nicht eingeplanten Gefahren, dann die populärwissenschaftlichen Fakten, bei denen sich insbesondere der Organisator und geistige Vordenker der Reise, Professor Dr. Stiller hervortut, und die beschaulichen Ruhepausen, die das paradiesische Leben auf unserem Nachbarplaneten beschreiben.

Die patriotischen Anspielungen auf das Deutsche Kaiserreich halten sich in Grenzen. Die Ode an den schwäbischen Geist wirkt auf die heutige Generation eher belustigend, denn manipulierend. Unter dem Eindruck des technologischen Fortschritts entwickelt Daibler hier im Grunde einen Fantasy-Roman. Auf der letzten Seite schwärmt Stiller von einem "Märchen voll Schönheit, von Zauber und strahlenden Licht" (Seite 142). Diese Einstellung spürt man im ganzen Roman und dies macht den Stoff auch fast einhundert Jahre nach seiner Entstehung noch sehr lesenswert. Selbst die Nutzung eines Zeppelins unterstreicht diesen Charakter. Obwohl die Größe imponierend war, waren die technischen Beschränkungen unübersehbar und eine Reise ins All unvorstellbar.

Doch neben dieser märchenhaften Komponente durchdringen den Text auch die Veränderungen des angebrochenen 20. Jahrhunderts. Noch steht die intellektuelle Oberschicht und nicht die Arbeiterklasse zu Beginn der Handlung im Mittelpunkt des Interesses. Sieben Professoren brechen auf, um den Mars zu erkunden. Was als wissenschaftliche Expedition geplant ist, wird für sie zu einem unerwarteten Läuterungsprozeß.

Betrachtet der aufmerksame Leser den Roman als Ganzes, dann fallen drei Teile auf, die in direktem Zusammenhang mit der persönlichen Entwicklung des Autoren und im übertragenen Sinne prophetisch mit den gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs im Zusammenhang stehen können. Dabei entspricht der Mediziner Daiber eher dem schwermütigen Prof. Dr. Fridolin Frommherz, dessen Spezialgebiete Ethik und Theologie sind, als dem Arzt an Bord Prof. Dr. Paracelsus Piller. Der Autor wanderte um das Jahr 1910 mit seiner Familie nach Chile aus, nachdem er zuvor die Welt bereist hatte. Die sieben Professoren brechen zum Mars auf, einer bleibt auf dem friedlichen roten Planeten zurück. Sowohl Autor, als auch geschaffene Kreatur entsagen ihrem bisherigen Leben. Die bisherige kaiserliche Gesellschaft mit ihrer Zucht und Ordnung, ihrem Drang nach möglichst militärischen Ehren, ist Allen fremd geworden. Auch die sechs Heimkehrer fühlen sich auf der Erde nicht mehr wohl. Ihre Begegnung mit der intellektuell hochstehenden Kultur der Marsianer – vergleichbar einem ganzen Volk griechischer Dichter – hat sie für den Rest ihres Lebens verändert. Daiber könnte ein vergleichbares Schlüsselerlebnis auf seiner Südseereise gehabt haben, die er vor seiner Auswanderung mit seiner Frau unternommen hat.

Das unterscheidet den Roman von den optimistischen Abenteuerstoffen Jules Verne. Seine Helden erreichen zwar nur den Mond, doch sie beweisen, daß dem menschlichen Geist keine Grenzen gesetzt werden können. Während Verne eine Rakete benutzte, greift Daiber auf die augenscheinlich imposanteste Erfindung deutscher Ingenieurskunst zurück: den Zeppelin. Jules Verne selbst wird erst in der posthum veröffentlichten Kurzgeschichte "Der ewige Adam" eine Daibers Vision vergleichbare kritische Haltung der Menschheit gegenüber einnehmen.

Dabei beginnt dieser Roman wie viele Texte seiner Zeit als Lobpreisung des deutschen Forschergeistes. Unbarmherzig treibt der Expeditionsleiter Stiller seine Techniker und Planer an, um das Luftschiff – den Weltensegler – pünktlich und mit seinen Plänen übereinstimmend fertigzustellen. Hier schwingt der Geist einer Ära mit, die erst knappe zwei Jahre später mit dem Untergang der Titanic als Symbol des Sieges der Natur über den Menschen und als Warnung vor dem bodenlosen Leichtsinn zu Ende ging. Spätestens in den Materialschlachten des folgenden Ersten Weltkriegs endete die Epoche letztendlich in den oft beschworenen Blut und Tränen. Der die Professoren verändernde Keil in ihrem bislang geordneten Leben ist die Zivilisation der Marsianer, der Mittel- und Wendepunkt dieses Romans.

Daibers Roman entspricht eher einem Bericht denn einer Geschichte. Er bemüht sich, die einzelnen sieben Helden mit kurzen prägnanten Charakterzügen und amüsanten Schwächen zu skizzieren. Auf der Reise selbst begegnen sie einer Reihe von phantasievoll beschriebenen kosmischen Ereignissen: dem kalten, tristen Mond, einem Kometen, sowie dem Marsmond Phobos mit dem es beinahe zu einem Zusammenstoß kommt. Der Mars selbst wird als unsagbar alte, aber hochkultivierte Welt – geistig, als auch technologisch – beschrieben. Bis auf die Marskanäle bleibt Daiber hier sehr vage. Er beschreibt weder fremde Maschinen und noch kratzt er an der Oberfläche der von ihm entwickelten und auf den griechischen Idealen basierenden, aber in dieser Konstellation offensichtlich nicht lebensfähigen fremdartigen Gesellschaft. Zu sehr mischt er die Vorzüge der marxistischen Lehren mit der beständigen Leitung der einfachen Arbeiterschichten durch eine Oligarchie sehr intelligenter Männer. Wie im realen Leben spielen Frauen keine Rolle. Auch wenn sich die Menschen in diesem Paradies zwei Jahre – und nicht drei, wie der Untertitel des Romans fälschlicherweise und vom Herausgeber klar widerlegt suggeriert – aufhalten, wird für den Leser die innere Struktur der fremden Kultur nicht erkennbar. Der Autor schwelgt im Positivem. Vielleicht versuchte Daiber die verschiedenen fremdartigen Sinneseindrücke des einfachen Lebens in Chile in eine überlegene Gesellschaftsordnung zu transferieren.

Der Mensch kann im Vergleich dazu nur seine literarische Vergangenheit und expansive Neugierde in die Waage werfen. Voller Enthusiasmus berichten die Gelehrten vom Stand der friedlichen wissenschaftlichen Forschungen. Auch wenn die Fremden gerne zuhören, sind ihnen zukünftige Besucher zuwider und wenn man es auf den Punkt bringen kann, schmeißen sie die tapferen Schwaben hinaus. Für das kaiserliche Deutschland ein undenkbarer Vorgang. Doch auch die Botschafter der Erde mit ihrer neugierigen, vom friedlichen Forscherdrang geprägten Art und den Vorlieben für schwäbische Weine und deftiges Essen entsprechen mehr den weißbärtigen Professoren eines Jules Verne Romans, denn der Vorstellung eines preußischen Offiziers.

Da Daiber mehr ein weit gereister Erzähler, denn ein trockner Wissenschaftler ist, liest sich sein Roman auch heute noch sehr unterhaltsam. Mit leichter Ironie sind die Dialoge durchtränkt und seine stolze Beschreibung des schwäbischen, wachen Geistes wirkt eher belustigend als antiquiert. Das im Kleinverlag Dieter von Reeken erschienene Paperback ist ein liebevoller Nachdruck der um 1910 erschienenen Ausgabe im lesbaren Neusatz. Es enthält ein sehr ausführliches und informatives Vorwort, das den Leser auf eine gedankliche Zeitreise zum Ausgangspunkt der Entstehung dieses Romans mitnimmt. Neben den Originalzeichnungen finden sich Abdrucke der ersten Seite in Frakturschrift und zwei Werbeseiten aus der ebenfalls in Vorbereitung befindlichen Fortsetzung.

Wer gerne einmal neugierig geworden an die Wurzeln deutscher phantastischer Utopien gehen möchte, dessen Erwartungen werden mit diesem kleinen und schön gestalteten Bändchen inhaltlich als auch äußerlich in allen Punkten mehr als befriedigt.