Fischer-Verlag, TB 15020
Titelbild von ?
März 2002, 7,90 €, 128 Seiten
Birgit Rabisch engagierte sich in der Studenten- und Frauenbewegung, war die Mitbegründerin der ersten Müttergruppe des Hamburger Frauenzentrums und später in der Friedensbewegung aktiv. Ende der siebziger Jahre begann sie mit dem Schreiben von Gedichten und Kurzgeschichten, die gesammelt im folgenden Jahrzehnt in dem Bändchen JAMMERLUERIK im Literaturpostverlag erschienen. Im Gegensatz zur normalen Präsentation von Lyrik druckte sie ihre Gedichte auf die rechte Buchseiten, auf den gegenüberliegenden Seiten konnte der interessierte Betrachter die entsprechenden Kommentare aus der Schreibgruppe goutieren. In dieser Gruppe lernte sie auch ihren zweiten Mann, den Schriftsteller Bernd Hans Martens, kennen, mit dem sie seit 1980 zusammenlebt. 1985 bekam Arne einen Bruder namens Soenke.
Seit 1982 ist Birgit Rabisch als Dozentin für »Deutsch als Fremdsprache« an der Volkshochschule Hamburg tätig. Nebenbei schreibt sie für diverse Anthologien und Zeitschriften Kurzgeschichten und Artikel.
Im Jahr 1990 verarbeitete sie ihre Erfahrungen aus der Altenpflege in dem Krimi »Bis der Mord sie scheidet« (Bund-Verlag). Obwohl bereits früher geschrieben (1986), erschien ihr nächstes Buch »Duplik Jonas 7« erst 1992 im Georg-Bitter-Verlag. Es basiert auf der Geburt des ersten Retortenbabys im Jahre 1978 und der daraus folgenden Beschäftigung mit der Gentechnologie und Reproduktionsmedizin. 1994 wurde der Roman mit dem Umweltliteraturpreis NRW ausgezeichnet, 1996 erschien er das erste Mal als Taschenbuch bei DTV pocket plus und ist bislang mehr als neunmal mit einer Gesamtauflage von mehr als 65000 Exemplaren gedruckt worden. Übersetzungen erfolgten ins Französische, Griechische und Spanische. Der Roman wurde Ende der neunziger Jahre auch mehrmals als Schultheaterstück aufgeführt.
Jonas ist ein Duplik, das mit vielen anderen Artgenossen in einem sogenannten Hort lebt. Abgeschottet von der Welt muß er Sport treiben und sich gesund ernähren, doch in dieses Idyll dringt immer wieder eine Krankheit namens FRASS ein. Diese kann nur durch das Entfernen der befallenen Organe »geheilt« werden. In Wirklichkeit dienen die Dupliks nur als Ersatzteillager für die wirkliche Welt. Eines Tages wird auch Jonas vom FRASS befallen. Der Roman ist in erster Linie für Jugendliche geschrieben worden, doch Brigitte Rabisch baut in den Text ihre Ablehnung der Gentechnik sehr stark ein und vergißt, daß die Polarisierung zu Lasten der Informationen geht. Nur Jonas leiblicher Vater als Befürworter der Gentechnik vertritt den Fortschritt. Die Handlungsebene wechselt oft unvermutet zwischen Jonas und Jonas 7 ohne daß es für den jugendlichen Leser klar erkennbar wird.
In dem 1997 erschienenen Jugendroman »Sonjas Logbuch« nahm sie sich den Themen Liebe unter Jugendlichen, Eifersucht und Verantwortung fürs eigene Handeln bzw. Nichthandeln an. Ein Jahr später folgte mit »Möglichkeiten der Liebe« eine Exkursion in das Thema Liebe zwischen Mann und Frau in »postfeministischen Zeiten«.
Birgit Rabisch präsentiert ihre Geschichte »Unter Markenmenschen«, die in einer nicht näher definierten Zukunft spielt, in Tagebuchform. Der siebzehnjährigen Sonja wurde von ihrem deutlich älteren Bruder ein auf Büttenpapier gedrucktes Tagebuch (mit kleinem Schloß) geschenkt, in das sie ihre Gedanken eintragen kann. Im Gegensatz zu den perfektionierten Markenmenschen ist sie auf natürlichem Wege gezeugt und geboren worden. Ein sogenanntes No-Name-Produkt. Die Markenmenschen stammen aus den Gen-Design-Labors und sind der Ausdruck für eine vom Perfektionswahn beherrschte Gesellschaft. Oder noch genauer, für die Menschen an sich, die eine gewisse Zeit in einer Neuentwicklung nur die intellektuellen Spielmöglichkeiten sehen, aber nicht den im Kern oft vorhandenen Nutzen. In dieser Gesellschaft stammen im Allgemeinen die No-Name Produkte aus den ärmeren Bevölkerungsschichten. Hier wollte ihre Mutter das mit dem indischen Vater gezeugte Kind behalten. Doch sie stirbt im Kindbett und ihre Tante holte den Säugling heim. Benjamin, der große Bruder, beginnt das kleine Bündel zu lieben und versucht sie, in dieser Gesellschaft, in der sie eine Außenseiterin darstellt, zu erziehen. Jean Paul, ein junger Mann, besucht ihren Bruder häufiger und die beiden verlieben sich ineinander. Benjamin reagiert auf diese Beziehung mit einer seltsamen Eifersucht, die schließlich zur Eskalation und Trennung der Geschwister führt. Als die Geschichte sich wiederholt und der Blitz ein zweites Mal einschlägt, zeigt sich der Unterschied zwischen Blut und Liebe.
Um an das Buch heranzugehen, kann man sich am Klappentext konzentrieren. »… in der ihre Liebe zu einem jungen Mann unpassend ist…« ist einer der Punkte, die hier sinnentstellend zum Kauf reizen sollen. Die Liebe zu Jean Paul ist für sie in erster Linie ein Schritt in die Normalität: ein No-Name Mensch wird von der höchsten Entwicklungsform des Menschen begehrt, dem Klon eines berühmten Sängers. Die Ironie dabei ist, daß dieser in seiner Jugend zu sehr nach dem Vorbild seines Vaters erzogen wurde und das Singen für ihn nur noch die Form von Selbstgesprächen angenommen hat. Er fühlt sich in der Öffentlichkeit nicht wohl. Aus Sonjas Sicht ist die Entdeckung ihrer Sexualität eine neue Erkenntnis. Erstaunlich gehemmt und unüberzeugend wirkt die Passage, in der Jean Paul zugibt, ihr die Hemmungen beseitigende Mittel heimlich verabreicht zu haben, um endlich den Akt der Liebe mit ihr zu vollziehen. In der Tagebuchform hätte diese Passage voller Freude und Selbstzweifel viel eindringlicher, explosiver wirken müssen. Daß die Liebe zu dem jungen Mann unpassend ist, kann der Leser anhand der Einträge auch nicht nachvollziehen.
Benjamin ist eifersüchtig auf Jean Paul und seine Schwester, doch die Gründe liegen in seiner eigenen Beziehung zu den beiden jungen Menschen, aber nicht in den gesellschaftlichen Vorschriften. Und der wenige »Druck« von außen entspricht unserer heutigen Gesellschaft, in der viele gemischtrassige Ehen auch mit einem gewissen Vorbehalt betrachtet werden.
»… und in der ihre Schwangerschaft zum unlösbaren Konflikt wird…« gibt einen wichtigen Teil des abschließenden Plots wider. Der unlösbare Konflikt liegt zwar in Sonja begründet, doch auch hier sind die Passagen nicht sonderlich viel stärker ausgeprägt als in der heutigen Zeit, wenn eine siebzehnjährige junge Frau ein Kind bekommt. Im Gegensatz zu vielen jungen Mädchen aus unserer Gesellschaft ist sie finanziell abgesichert. Auch ist der Schritt für sie leichter nachzuvollziehen als für eine »gewöhnliche« Frau, denn sie ist natürlich gezeugt und kennt beide Seiten der Medaille. Hier stellt sich die Frau, wie eine reinrassige Markenfrau auf die Schwangerschaft reagiert hätte. Vielleicht eine bessere Basis, um den Konflikt an sich aufzuarbeiten.
Durch die Tagebuchform bietet Birgit Rabisch ihren Lesern wenige Ansatzpunkte, um sich mit der Gesellschaft an sich zu beschäftigen. Sie stellt den Perfektionswahn an den Pranger, ohne auch auf die andere Seite einzugehen: Vollständige Kontrolle und Ausmerzung von verschiedenen Erbkrankheiten, die Möglichkeit, während der Gestehungsphase Kinderkrankheiten zu heilen oder auch eine neue Basis, um amputierte Gliedmassen neu wachsen zu lassen. Diese Vorteile läßt sie in diesem Roman komplett aus. Auch die sozialen Konflikte zwischen den Mitschülerinnen und Simone ereignen sich auf einer einfachen Ebene, wie sie jedes Kind miterlebt hat, das in der Schule gehänselt worden ist. Wer diese Sticheleien mitgemacht hat, fragt sich, was das Gejammer soll, sie mußten immerhin jeden Tag in die Schule gehen und nicht alle Jubelwochen.
Durch die Tatsache, daß Simone in einem begüterten Hause aufwächst, entfällt eine weitere Konfliktebene. Was für ein Potential für einen Roman, wenn eine No-Name Frau (oder besser Mädchen) aus ärmlichen Verhältnissen dieses Tagebuch von seinem großen Bruder geschenkt bekommen hätte. Der Kampf mit den Vorstellungen der Gesellschaft, mit den Vorurteilen, den Chancen und Nachteilen hätte eine andere, fesselnde Dimension angenommen. So beschäftigt man sich mit dem Thema, das dem Buch ein bißchen Farbe gibt: dem Sex, dem Voyeur in der Familie, die Bruder-Schwester-Liebe und schließlich der Schwangerschaft. Alles wichtige, interessante Themen, die hier in dieser zu konzentrierten Form den Betrachter außen vor lassen. Der Autorin gelingt es nicht, den Leser in ihre Figur Simone hineinzuziehen und das wäre elementar, wenn man sich auf die Tagebuchform und die einseitige Perspektive verlassen muß.
Im Vergleich zu dem Film »Gattaca«, in dem ein Einzelgänger mit seinem Willen der perfekten Gesellschaft zeigt, daß der Mensch stärker ist als seine Umgebung, stärker als die Vorurteile, bleibt sie an der Oberfläche und leider fehlt ihr der Mut wirklich tief zu graben.
Sie verschenkt in der leichten, auf Dramatik konstruierten Geschichte viele Ansätze. Auch wenn der Roman in der Reihe »Die Frau in der Gesellschaft« erschienen ist und vielleicht – für Männer nicht so leicht nachzuvollziehen – einen anderen Ansatz, einen anderen Anspruch an die Geschichte stellt, ist es doch wichtig, wenn ich einen »Roman über die schöne neue Welt der genetischen Optimierung von Menschen« schreibe, diese Ebene auch zu nutzen. Einige nette Ansätze mit der Nutzung der sexuellen Begegnungsstätten, in denen die Männer endlich Frauen mit Fehlern und andersherum begegnen können (die Frage stellt sich, ob der größte Teil dieser perfekten Menschen diesen Wunsch hat oder es sich nur um eine kleine Gruppe handelt, in der heutigen Gesellschaft ist es nur eine kleinere Anzahl von Personen, die aus ihrem gewohnten Umfeld – egal was es ist – ausbrechen wollen) und der kitschigen Kinogeschichten, in der nicht perfekte Frauen von perfekten Männern geliebt werden können (als Spiegelbild passiert Simone genau dieses).
Hier bleiben in der stilistisch angemessen erzählten Story zu viele Punkte unbehandelt (es kann argumentiert werden, daß dazu 126 Seiten nicht reichen, aber niemand hat die Autorin gezwungen, einen so kurzen Roman zu schreiben). Die Ansätze, um die Geschichte in seinen Gedanken weiterzuspinnen, sind zu dünn gesät und die auf ein typisches Klischee zulaufende Geschichte reizt auch nicht, das Schicksal der Figuren weiterzuverfolgen.
Als Parabel auf unsere heutigen gesellschaftlichen Vorurteile wirkt der Roman sehr viel überzeugender als eine kritische Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen und durch die Entwicklung der Gentechnik veränderten Strukturen. Das Reizthema der Züchtung eines neuen Menschengeschlechts wird hier angerissen, aber im Kern unbefriedigend behandelt und so bleiben nette Szenen, verstreut im großen Meer der Diskussion. Wie bei einem Schiff, das man auf dem großen Weltmeer hinter dem Horizont entschwinden sieht. Die Begegnung hinterläßt keinen bleibenden Eindruck.