J.G. Ballard – Kristallwelt

Kristallwelt

Edition Phantasia, 2005
Paperback
Science Fiction
ISBN 3-93789706-2, 12,90 €

Nach seiner Erstveröffentlichung im Rahmen der Allgemeinen Reihe des Fischer-Verlages und einer Neuveröffentlichung in der Phantastischen Bibliothek Suhrkamps, legt die Edition Phantasia diesen klassischen Katastrophenroman in ungekürzter Neuübersetzung als preiswerten Paperbackband ein drittes Mal in Deutschland auf. Entstanden in Ballards noch nicht so wilder Zeit – erst drei Jahre später experimentierte er mit Drogen – gehört das Werk trotzdem zu einer Reihe von bizarren und symbolträchtigen Katastrophenromanen aus seiner Feder.
Selten hat ein Autor unsere bekannte Realität auf so unterschiedliche, vielfältige und wunderschöne Weise sterben lassen. Dabei trägt er die Fahne John Wyndhams in die Zeit des New Wave weiter und setzt der Tradition H.G. Wells und seiner Erben gekonnt Hörner auf. Seine Untergangsphantasien scheinen aus den Menschen selbst heraus zu brechen und wirken wie geistreiche Kommentare und böse Abrechnungen der Wirtschaftswundertage.

Dabei geht Ballard – wie öfter angestrebt, aber literarisch noch nicht perfekt umsetzbar – über die bloße Beschreibung der Katastrophe hinaus. Im Mittelpunkt dieses Kurzromans steht die besondere Beziehung zwischen Ballards Charakteren und dem eigentlichen und augenscheinlichen Ereignis. Sie fühlen sich vom Kristallisierungsprozeß unmittelbar bedroht und gleichzeitig angezogen. Ähnlich wird es den Protagonisten in seinem schockierenden Roman »Crash« gehen. Sex und Autounfälle werden die Charaktere immer weiter in ein unsichtbares Netz einweben.

Die angedeutete Todessehnsucht wird in einigen anderen Romanen eine entscheidende Rolle spielen – die Gesellschaft ist übersättigt und deswegen dem Untergang geweiht (»High Rise« oder »Cannes«). Während Ballard hier die Katastrophe noch in der Dritten, der unterentwickelten Welt ansiedelt, wird sie später kraftvoll und unvorhergesehen die Industrienationen treffen. Von einem konsequenten Nihilismus durchzogen erweitert Ballard im Laufe seiner literarischen Karriere die Horizonte und kehrt immer wieder auf den Kern der Unruhe, das unstetige und unzuverlässige Wesen des Menschen zurück.

Der Beginn dieses Werkes ist mehr in der fiktiven Vision des bekannten Bogart Klassikers »The African Queen« angesiedelt, als in der Realität der sechziger Jahre. Dr. Edward Sanders reist durch Kamerun, um Freunde zu besuchen. Ballards Kamerun ist eine wundervolle Hommage an eine postkoloniale, fast surrealistisch verfremdete Welt, in der noch Kolonisten aus dem alten Europa in Eintracht mit der Urbevölkerung und nicht als Unterdrücker und Sklavenhändler leben. Dabei scheut sich der Autor nicht, die dunkle Seite des Kontinents anzusprechen, so leitet Sanders eine Leprakolonie und die Clairs, die er besuchen möchte, haben eine kleine private Klinik im Inneren des Landes eröffnet. Bei den Beschreibungen der einzelnen Protagonisten, denen Sanders auf seiner Reise begegnet, mischt Ballard oft verschiedene Klischees. So trifft er auf eine waffenschwingende Emanze und der Minenbesitzer Thorensen ist eine durch und durch zwielichtige Figur. Aus den gemeinsamen, aber emotional armen Dialogen erfährt der Leser weder wichtige Informationen über deren Vergangenheit noch deren weiterreichende Pläne. Das Geschehen erweckt den Eindruck einer fühlbaren Zeitlosigkeit. Schnell erkennen Protagonist und Leser, daß diese Figuren trotz aller ihrer Unterschiede zusammengehören und ihnen eine gemeinsame Reise und damit ein vergleichbares Schicksal bevorstehen. Dazu mischt sich mit dem am eigenen Glauben zweifelnden Pastor Balthus eine weitere aus dem Lehrbuch übertragene zwielichtige Gestalt. Die Gefühlskälte und damit verbunden das langsame zu Stein werden, wird überdeutlich in der kurzen Affäre Sanders mit der amerikanischen Journalistin Louise Peret und verstärkt sich, als er seine Freunde in ihrer Dschungelklinik erreicht.
Zu diesem Zeitpunkt läßt sich die Veränderung des Landes, die Kristallisierung, nicht mehr verheimlichen. In diesem Augenblick erinnert sich Sanders auch an einen armen Mann, dessen Körper in der Hafenstadt kurz vor Sanders weiterer Reise aufgetaucht ist. Der Dschungel verändert die Oberfläche und im Rahmen dieser neuen Schöpfung alle Lebewesen. Dieser Transformationsprozeß nimmt keine Rücksicht auf anorganische oder organische Materie. Sogar ein Fluß wird von dieser fremdartigen Substanz bedeckt. Stilistisch eindrucksvoll bestimmt eine einprägsame Simplizität die Beschreibungen und diese Passagen zählen zu den stärksten Abschnitten des Romans.

Nach dieser Entdeckung offenbart sich ein deutlicher handlungstechnischer und intellektueller Bruch im Roman. Obwohl Sanders wahrscheinlich der auslösende Katalysator dieser unerklärlichen Entwicklung sein könnte, verbleibt der Autor bei einer ungewöhnlich esoterischen und deswegen unbefriedigenden Lösung. In späteren Interviews könnte ein aufmerksamer Leser ableiten, daß für Ballard der Roman eine überzeugende Vision eines LSD-Rausches darstellt und diese Perspektive verzichtet deswegen auf jegliche folgende Logik. Darum wirken auch die farbenprächtigen und rauschartigen Bilder besonders ausdrucksstark, auch wenn der Autor betont, zu diesem Zeitpunkt noch keine Drogen genommen zu haben.

Auch eine andere Interpretation der Ereignisse läßt sich von der Figur des wankelmütigen Geistlichen ableiten. Für Vater Bathus ist diese strahlende Kristallwelt die Vereinigung von Raum und Zeit in einer Inkarnation des Schöpfers. Konnte er bislang zwar die Existenz Gottes nicht leugnen, so glaubte er auch nicht an ihn. In dieser fremdartigen Welt kommt es für ihn persönlich zu einer Rückbesinnung. Gleichzeitig erkennt er, daß seine Zweifel an Gott falsch waren. Zumindest einer aus der Gruppe hat sein Ziel erreicht. Heute stellt sich für Generationen von Psychologen die Frage, ob extreme Religiosität auch eine Form der Droge sein könnte. So schwingt zwischen diesen Zeilen eine ungemein weitsichtige Kritik an verschiedenen Geistesströmungen mit. Robert Anton Wilson wird in seinem ungemein spannenden und vielschichtigen Roman »The Chronolits« eine andere Richtung einschlagen und das Auftauchen von Monolithen – eine kleine Hommage an diesen Roman – als Untergang einer brüchigen alten Welt durch eine Bedrohung aus der Zukunft nutzen.

Weiterhin finden sich eine Reihe von Anspielungen an Joseph Conrads klassischen Roman »Hearts of Darkness«, den z.B. Francis Ford Coppola als Vorlage »Apocalypse Now« nutzte, aber auch Nicolas Roeg als Film umsetzte. Insbesondere Roeg ist genau wie Ballard Engländer und eine intensive Studie der beiden Werke weist trotz aller handlungstechnischen Unterschiede eine Reihe von verblüffenden intellektuellen Ähnlichkeiten auf.

Im ersten Teil des Buches entwirft Ballard mit ungewöhnlicher Leichtigkeit ein modernes Bild des kolonialisierten Afrikas. Obwohl er in Asien aufgewachsen ist und unter dem japanischen Angriff zu leiden hatte, schwingt zwischen den Zeilen unbewußt eine gewisse radikale und imperialistische Grundeinstellung mit. Der Leser bekommt den Eindruck, als ob sich Ballard die gute alte Zeit der Kolonialmächte zurückwünschen würde. Trotzdem steht Ballard in Gestalt seines Alter Egos Sanders seinem Afrika das Recht zu, sich zu verändern. Der Kristallisierungsprozeß macht diese Veränderungen obligatorisch.
Zumindest in der ersten Hälfte kann der Autor zwischen der subjektiven Handlung und der moralischen Einstellung seiner Figur unterscheiden, fast liebevoll wendet er den Fokus von seinem Protagonisten ab, und den verschiedenen äußerlichen Ereignissen und Begegnungen mit einer Reihe unterschiedlichster Charaktere zu. Das macht in der zweiten Hälfte des Buches den Übergang in die andere Welt leichter.

Im zweiten Teil des Romans gelingt ihm nicht die Umsetzung seiner originellen Idee in eine ansprechende, fesselnde Handlung. Es läßt sich nicht mehr feststellen, ob die Schwäche mehr in der zum Teil oberflächlichen Charakterisierung seiner einzelnen Figuren begründet ist oder ihm der Stoff ausgegangen ist, den roten Faden konsequent weiterzuspinnen. Das Interesse des Lesers an den Ereignissen läßt nach der offensichtlichen Begegnung mit der Veränderung – dem Kristallisierungsprozeß – deutlich nach. Ob eine logische und befriedigende Auflösung anstelle der esoterischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen das Buch an dieser Stelle gerettet hätte, bleibt dem Einzelnen überlassen.

Dabei konzentriert sich der Autor im Grunde nicht auf das Drogenexperiment an sich, sondern sucht seinem Alter Ego ein Motiv zu geben. Einige Jahre später werden andere Figuren aus seiner Feder in dem mehr am Mainstream orientierten »Days of Creation« die legendären Suche nach der Quelle des Nils beginnen und eine ähnlich komplizierte und befremdende Quest auch in das tiefste Innere unternehmen müssen. In »Kristallwelt« kommt es zum Übergang in eine Dimension, in der die Zeit ihr Ende gefunden hat und alle Geschichten erzählt worden sind, die Gedanken legen sich schlafen, die menschliche Existenz und das stetige Suchen hat ein fragwürdiges Ziel und einen beklemmenden Abschluß gefunden. Mit dieser Intention schlägt Ballard wieder einen Bogen zu Drogenexperimenten, deren Ziel die komplette Loslösung von Zeit und Raum ist. Dieses Ziel erreicht auf dieser Reise das kleine Team um Sanders ohne die Zuhilfenahme künstlicher Substanzen. Außerdem zeichnet die Gruppe eine nicht näher charakterisierte Motivation aus. Das steht im Kontrast zu der oft richtungslosen Drogenkultur. Sanders erklärt seinem Umfeld mehrmals unbestimmte Ambitionen zu hegen und sieht den Besuch der Clairs nicht nur als Freundschaftsdienst, sondern als seine Bestimmung. Weiter definiert er weder seine Absichten noch sich selbst.

Trotz vieler Schwächen im Handlungsablauf finden sich ausdrucksstarke und für Ballards erzählerische Stärke und seine unerschöpfliche Phantasie ungemein typische Passagen. Die Kürze des Buches und der schnelle Wechsel zwischen einzelnen Bildern fängt den Leser in den schwächeren Kapiteln immer wieder ein. Fasziniert und ein wenig verschreckt begleitet er eine Handvoll von zweifelhaften Existenzen auf ihrer jeweiligen Suche nach einem persönlichen Paradies. In diesem Bereich ähnelt sein Roman mehr einem metaphysischen Glaubensbekenntnis denn einem phantastischen Roman.

Im Rahmen seines Gesamtwerkes öffnet »Die Kristallwelt« das Tor zu einer Reihe von Weltuntergangs- oder Weltveränderungsszenarien. Gerade wegen seiner Entstehung in den frühen sechziger Jahren – vor der eigentlichen Blumenkinderrevolution und seiner historischen Bedeutung – empfiehlt es sich, diesen Klassiker trotz einer Reihe von inhaltlichen Schwachpunkten und Oberflächlichkeiten noch einmal ungekürzt zu lesen.