Argument Verlag, Social Fantasies 2054
Titel der Originalausgabe: »City-Come a walkin’« (1996)
aus dem Amerikanischen von Hannes Riffel
Umschlaggestaltung: Martin Grundmann
Juni 2000, 9,50 €, 217 Seiten
Eine alte Weisheit lautet, daß man erst ein Schriftsteller werden kann, wenn man aus der Erfahrung seines Lebens etwas zu berichten hat. Wer sich nicht nur mit dem Science Fiction und Horrorwerk des John Shirley beschäftigt, sondern sich auch mit seiner musikalischen Karriere und seinem Hintergrund auseinandersetzt, der wird feststellen, daß Shirley dem Leser wirklich etwas zu sagen hat.
»Ich bin einer der Menschen, der leidenschaftlich schreibt, der schreiben muß, um nicht verrückt zu werden. Als Jugendlicher konnte ich kaum etwas vernünftig. Ich war tolpatschig und genau das, was Harlan Ellison einen Träumer nennt. Ein Träumer was die Phantasie betrifft, aber auch jemand, der ständig unaufmerksam war. Immer wenn ich etwas geschrieben habe, ragte ich aus der Menge heraus. Und so wandte ich mich mehr und mehr der Sache zu, die ich am besten konnte.« Originalton John Shirley.
STADT GEHT LOS stammt aus einer Zeit, als der Begriff Cyberpunk noch nicht mit der Erlösung der Science Fiction aus ihrem Ghetto gleichgesetzt worden ist. Es gab diese Richtung noch gar nicht und William Gibson hatte Schwierigkeiten, seine Kurzgeschichten zu verkaufen. Erst ein Jahr später stellte John Shirley den jungen Gibson auf einem Con in Toronto einigen Herausgebern vor. Einige Monate bevor BLADE RUNNER in die Kinos kam, ein richtungsweisender Science Fiction-Film, den kaum jemand sehen wollte und Philip K. Dick seine Begegnung mit Valis in Romanform verarbeitete. John Shirley schrieb zu diesem Zeitpunkt tagsüber Science Fiction und sang nachts in verschiedenen Punkbands. Gelernt hat er das Schreiben in einem der Workshops von Harlan Ellison. Unter Drogen als überforderter Neunzehnjähriger legte er sich nicht nur einmal mit dem nicht einfachen Ellison an, positiven Einfluß hatten da eher Ursula K. LeGuin und Robert Silverberg, die John Shirley behutsam erklärten, daß ein Lektor nicht nur ein schlechter Mensch ist, sondern seine schriftstellerische Ausdruckskraft in die richtigen Bahnen lenken kann. STADT GEHT LOS zeigt auch eine Zeit auf, in der für viele die Science Fiction noch einmal zu neuen Ufern aufbrechen wollte. Im Gegensatz zur New Wave-Bewegung der sechziger und siebziger Jahre schuf sich der Cyberpunk aber sehr schnell sein eigenes Ghetto. Helden im Cyberspace, Kämpfer gegen die mächtigen japanischen Konzerne (Wer betrachtet heute Japan oder Asien schon noch als echte Konkurrenz der amerikanischen Wirtschaft?), dunkle Sonnenbrillen, weibliche Leibwächter mit tödlichen Waffen als Implantate und düstere Rockmusik beherrschten diese junge Wilden, alle auf der Suche nach der echten und wahren Liebe. Viele der Romane erinnerten an die schwarzweißen Film Noir-Krimis aus den vierziger Jahren, geschrieben in einer Zeit, als sich niemand eine gute Zukunft vorstellen konnte und trotz aller Düsternis immer mit einem kleinen Funken Hoffnung. Gegen die Etablierten wollten sie sich stellen, inzwischen aber hat sie die Szene wieder geschluckt. Nur John Shirley mit seinen sehr harten Horror-Romanen und seltenen Ausflügen in die Science Fiction ist ein Kind der Punk/Hardrockbewegung geblieben, wie seine viele Lieder für BLUE OYSTER CULT zeigen. Und damit schließt sich zumindest für den Altpunker der Kreis, denn auch Michael Moorcock hat für diese Band einige Lieder geschrieben.
Die Rocksängerin Catz ist eine rauhe, im tiefsten Inneren aber romantische, vom Leben gezeichnete und nicht mehr ganz junge Frau, die sich zumindest einen kleinen Fankreis hart erarbeitet hat. Eines Abends taucht bei einem Konzert im Nachtclub ihres Freundes (im freundschaftlichen Sinne) Stu Cole eine geheimnisvolle Gestalt auf, die scheinbar mühelos ihre Kleider wechselt, seine Hautfarbe ändert oder in andere Statur erscheint. Das einzige, was sich nicht verändert, ist die dunkle Sonnenbrille, die direkt aus seinen Schläfen wächst. Wie Stu und Catz herausfinden, ist es die Fleisch gewordene Stadt, die sich vom Abschaum der Menschen, ihren Drogen und ihrer Gewalttätigkeit säubern möchte und dazu braucht sie menschliche Helfer. Anfangs stellt sich Stu, der sich mit seinem Club auch gegen die Mafia gewehrt hat, auf die Seite der Stadt, ohne zu ahnen, daß diese auch vor Mord nicht zurückschreckt und Feuer mit Feuer bekämpft. Um sich zurückzuziehen, ist es zu spät, denn Catz wird von verschiedenen Gruppen bedroht. Im Laufe der Zeit erkennt Stu, daß nicht nur in San Francisco die Stadt erwacht ist.
Shirley beginnt seinen Roman als Rückblende. Viele Filme der vierziger Jahre haben sich dieses Mediums bedient, um den Leser ohne viel Vorwarnung direkt in der Zentrum der Geschichte zu stoßen. Das bekannteste Beispiel sollte SUNSET BOULEVARD sein, in dem eine Leiche seine Geschichte erzählt. Vielleicht ist Stu auch schon tot oder in seiner Existenz so weit verändert, daß er „nach seinem Tod“ erst die ganze Geschichte erzählen kann. Auf knapp über zweihundert Seiten berichtet Shirley einer Rockballade gleich die ungewöhnliche Rächerstory. Er verzichtet auf lange Einführungen, stürzt die handelnden Personen direkt in das Geschehen und einem guten Livekonzert gleich hält er den Leser in seinem Griff. Das die Grundgeschichte sehr einfach gestrickt ist und keine der Figuren über einfache Skizzen hinauskommt, steht auf einem anderen Blatt. Unterhalten möchte Shirley erst in zweiter Linie, er brüllt seine Message hinaus, warnt vor der erdrückenden Gewalt und der zunehmenden Isolation der Menschen in den großen Betonburgen. In wie weit er der Roman überarbeitet und umgeschrieben hat, kann ich leider nicht beurteilen, den Kern des Buches hat er Gott sei Dank unberührt gelassen.
STADT GEHT LOS ist eine rauhe, rohe Arbeit, einfach zu lesen, schwierig zu verdauen, ein erster Einblick in die Schaffenskraft von John Shirley und seiner „Things to come“ und es ist schön, daß der Roman jetzt wieder zu erhalten ist. Es wäre schön, wenn nach alle Romane von John Shirley und auch seine Storysammlungen aus dem Bereich Science Fiction und Horror erscheinen würden.