Andreas Gruber – Der Judas-Schrein

Der Judas Schrein, (c) Festa-Verlag

Festa-Verlag
Horror
Hardcover mit Schutzumschlag
464 Seiten, 24,00 €, ISBN: 3-935822-83-9

Der Österreicher Andreas Gruber legt mit »Der
Judas-Schrein« seinen ersten mit einer durchlaufenden Handlung
konzipierten Roman vor und kehrt mit der Thematik zu den Wurzeln seiner
ersten Geschichtensammlung »Der fünfte Erzengel« zurück. Auf diese
(inzwischen im Shayol-Verlag neu aufgelegte Ausgabe) folgte die Science
Fiction-Sammlung »Die letzte Fahrt der Enora Time« und der
kriminalistisch angehauchte und humorig ausgestattete Episodenroman
»Jakob Rubinstein«. Wie »Jakob Rubinstein« spielt »Der Judas-Schrein«
im heimischen Österreich, dieses Mal allerdings nicht in und um Wien,
sondern in einem abgelegenen Dorf in den Bergen.

Ausgangspunkt dieser im Universum H.P. Lovecrafts angesiedelten
Geschichte ist wieder ein Kriminalfall, der sich für das ermittelnde
Team nicht nur zu einer schwer zu knackenden Nuß entwickelt, sondern
den leitenden Beamten Alex Körner an den Ort seiner Jugend zurückführt
und sein Ermittlungsteam in lebensbedrohliche Situationen bringt.

Das bisherige Werk Grubers offenbarte ein Faible für atmosphärisch
dichte, oft skurrile Geschichten mit einem Hang zum Surrealen. Dabei
sind seine Stärken in den  längeren Texten ausgeprägter zu finden
– in seinen Novellen hat er den notwendigen Platz, Plots und Charaktere
besser zu entwickeln, während seine Kurzgeschichten oft etwas hektisch
und zu komprimiert wirken . Darum stellt sich bei der Lektüre dieses
umfangreichen Erstlingsromans unwillkürlich die Frage, ob er den
Spannungsbogen auf Romanlänge erweitern und gleichzeitig seine
konzentrierte Erzählstruktur verbessern kann?

Ein junges Mädchen wird in einem kleinen Ort in den Bergen grausam
ermordet. Die Wiener Polizei schickt Alex Körner, der bis zu seinem
vierzehnten Lebensjahr dort gewohnt hat. Seine Eltern sind bei einem
Brand in ihrem Haus ums Leben gekommen und er fand danach bei seiner
Tante in Wien Aufnahme. Im Nachbarort lebt noch seine Ex-Frau mit ihrer
gemeinsamen Tochter. Körner selbst hat sich gerade ein
Ermittlungsverfahren auf die Schultern gelegt. Er hat dank seiner
ausgezeichneten Selbstverteidigungsausbildung einen Schwerverbrecher
ins Krankenhaus befördert, nachdem dieser Geiselnehmer ihm kinderleicht
die Dienstwaffe entwunden hatte und auf die Kollegen schoß. Daß sein
Leichtsinn die Affekthandlung des in die Ecke getriebenen Mannes
zumindest begünstigte, wird von der Presse und einigen Herren bei der
Staatsanwaltschaft in den Vordergrund gerückt, während die Entschärfung
des umfangreichen und explosiven Waffenmaterials des Verbrechers lieber
unter den Teppich gekehrt wird. Zu seinem  Ermittlungsteam gehört
außerdem noch ausgerechnet seine langjährige Freundin, die sich vor
kurzem von ihm getrennt hat.

So muß Körner nicht nur mit aktuellen Beziehungsproblemen kämpfen,
sondern sich seiner Vergangenheit stellen und in einem Dorf ermitteln,
das ihn nicht akzeptiert, sondern als fremden Eindringling behandelt.
Gleichzeitig droht dem Ort eine Flutkatastrophe. Durch die Regenfälle
tritt der Fluß Trier über seine Ufer und es ist nur noch eine Frage der
Zeit, bis die Deiche die Wassermassen nicht mehr halten können. Schnell
stellt Körner fest, daß den ganzen Ort ein Geheimnis umgibt, das viel
weiter als seine eigene persönliche Vergangenheit reicht und vor dem es
kein Entkommen zu geben scheint…

Das größte Problem nicht nur diesen Romans ist es, eine klassische
Gruselgeschichte in einer hochmodernen Industrielandschaft spielen zu
lassen. Naturgeister oder Lovecrafts »Die Alten« haben es eben schwerer
im Zeitalter des Handys, des Internets und des Gameboys. Selbst einfach
zu beeinflussende Seelen lassen sich nicht mehr so leicht fangen und
die Hinweise auf das dunkle Erbe der Vergangenheit erhalten
unwillkürlich und ungewollt schnell einen märchenhaften und die
bedrohliche Atmosphäre zerstörenden Touch.

Geschickt isoliert Andreas Gruber mit fortschreitenden Ermittlungen
seine Ordnungskräfte von ihrer technologisch fortschrittlichen
und vertrauten Umgebung. Darum kämpfen seine Charaktere an zwei
Fronten: gegen die offensichtliche Feindseligkeit im Dorf und die
eigene fortschreitende Isolation von allem Vertrauten. Selbst Körner,
in dieser Abgeschiedenheit aufgewachsen, kehrt erst nach und nach zu
seinen Wurzeln zurück. Sobald er diese Situation akzeptiert, wird aus
dem eher passiven Ermittler – von Hinweis zu Hinweis geleitet – ein
aktiver und entschlossener Überlebensspezialist. Wie bei einer
Zeitreise kehren sie zu den Wurzeln ihrer Polizeiarbeit zurück und
passen sich der Oase in der Zeit, die das Dorf scheinbar darzustellen
scheint, komplett an. Erst durch diese gedankliche Anpassung offenbaren
sich weitere Geheimnisse. Um diese Isolation perfekt zu machen, nutzt
Gruber Besonderheiten der österreichischen Bergwelt. Wird alleine durch
das ständig regnerische Wetter die Stimmung der Polizisten beeinflußt,
geht der Autor einen Schritt weiter.

Die hier beschriebene Überflutung der Flüsse und die drohende
Überschwemmung des Ortes mit gleichzeitiger Unterspülung der Deiche
sind zeitliche Druckmittel und der ständig fallende Regen verschärfen
die Situation, eine zusammenstürzende Brücke zerstört den einzigen
Zugang zum kleinen, abgeschiedenen Ort, den Handys geht der Saft aus
und schließlich fallen die Telefonleitungen und der Strom aus.
Spätestens ab dieser Sekunde werden die zivilisierten Großstädter auf
die gleiche Stufe zurückversetzt wie Lovecrafts tragische Helden knappe
hundert oder zweihundert Jahre zuvor. Die Konfrontation
Polizist-Dorfgemeinschaft / Wesen reduziert sich wie in den gotischen
Horrortexten auf ein Duell des Verstandes – soweit von den Ereignissen
noch nicht in Mitleidenschaft gezogen – und der körperlichen Kraft.

Mit diesem literarischen Kniff lassen sich Lovecrafts ansonsten oft
verstaubte und befremdliche Schöpfungen in eine Gegenwart übertragen,
deren übernatürliche Bedrohungen eher aus dem Fernsehen, denn aus dem
Inneren der Erde auf die Menschen übergreifen.
Außerdem kennt Andreas Gruber die kleinen verschlafenen Dörfer in den
österreichischen Bergen. Kurz, prägnant mit pointierter Schärfe führt
er seine Leser in diese von der Zeit vergessenen Stellen unter Gottes
weitem Himmel ein. Im Laufe des Romans erweitert und verengt er
gleichzeitig die Perspektive des Betrachters. Je mehr er von dem
kleinen Ort kennenlernt, desto enger werden die Beziehungen der
einzelnen Bewohner untereinander, um so stärker das Netz, das sie um
sich als Schutz gegen die Außenwelt gewoben haben. Diesen Hintergrund
verfeinert Gruber im Laufe des Romans immer weiter und zieht seine
Leser – im Gegensatz zu den Ermittlern, die über weite Strecken des
Romans ihrem Unglauben frönen und eine Mordtheorie nach der anderen
entwickeln – in den Bann dieses Ortes.

Neben der Atmosphäre ist die Charakterisierung der agierenden
Protagonisten ein weiteres wichtiges Element. Neben Alexander Körner
als Handlungsträger führt Andreas Gruber die Mitglieder seines Teams
mit kurzen, prägnanten, aber ein wenig klischeehaften Beschreibungen
ein. Die enttäuschte Freundin, die sich schließlich auf seine Seite
schlägt, eine Kollegin, für die er mehr als ihm gut tut zu empfinden
beginnt oder seine Ex-Frau, die ihn lieber gehen als kommen sieht.
Die große Überraschung neben der Ausgestaltung der einzelnen Figuren
ist die Tatsache, daß alle »sterblich« sind. Die Bewohner des Dorfes
hat Gruber bewußt flach und zweidimensional beschrieben. Erst im Laufe
der Handlung kann der Leser dem Autor auf dieser literarischen
Abzweigung folgen. Zwischen den Zeilen kommt ihm zwar immer wieder ein
Verdacht – und spätestens mit der Einführung der 1937 spielenden
Einschübe wird es zur Gewißheit – aber Andreas Gruber kann alle bei der
Stange halten, bis er den Vorhang von seiner Kreatur und ihrem
Geheimnis zieht. Schlagartig erweitert er hier wieder die Perspektive
und zerstört damit einen Teil der Faszination, die über Hunderte von
Seiten aufgebaut worden ist. Die Oase eines kleinen Bergdorfes kann er
ohne Zweifel nachvollziehen, die Vision einer weltweiten Symbiose
zwischen Mensch und Kreatur dagegen wirkt übertrieben und vollkommen
unnötig.
Über weite Strecken erscheint Alexander Körner als akribischer, aber
selbstverliebter Beamter auf der Suche nach innerem Frieden mit der
Überzeugung, möglichst viel selbst in die Hand zu nehmen. Das ist vor
dem Einsetzen der Handlung entsetzlich schiefgegangen und setzt ihn bei
diesem Fall noch mehr unter Druck. Im Laufe der Ermittlungen isoliert
er sich mehr und mehr von seinem Team. Als nach und nach verschiedene
Mitglieder der Gruppe ermordet werden, beginnt er an seinen eigenen
Fähigkeiten zu zweifeln. Diesen langsamen Verfall seines
Handlungsträgers hat Gruber über weite Strecken sehr packend und
vielschichtig beschrieben. Mit dem Epilog am Ende stellt sich für die
Leserschaft eine weitere Frage: Haben die Ereignisse wirklich so
stattgefunden oder ist Körner inzwischen Opfer seines eigenen Wahnsinns
geworden?

An einer Stelle wird allerdings Grubers Enthusiasmus auf eine harte
Probe gestellt: Als er im Keller eines der Gebäude die Leiche eines
seiner toten Kameraden findet, legt er seine gezogene Waffe zur Seite,
birgt den Körper und vergißt die Pistole mit schrecklichen
unmittelbaren Folgen. Nachdem Auftakt mit dem Geißelnehmer und in der
Situation, in der sich Körner befunden hat, ist es sehr
unwahrscheinlich, daß er seine Waffe beim Entdecken der schrecklich
zugerichteten Leiche seines Teamkameraden einfach liegen läßt.

Auch die danach folgenden Ereignisse wirken gehetzt und unnötig
zusammengedrängt. Erst gegen Ende des Romans nimmt sich der Autor
wieder die notwendige Zeit, eine Geschichte von fast vierhundert Seiten
adäquat zu Ende zu führen.

Nach der überwiegend guten Charakterisierung seiner Figuren und einem
interessanten und betrachtenswerten Hintergrund stellt sich die letzte
Frage, ob die eigentliche Handlung einen so umfangreichen Roman auch
tragen kann. Andreas Gruber hat eine Geschichte in der Tradition
Lovecrafts geschrieben. Aus heutiger Sicht sind viele seiner Texte
immer noch sehr lesenswert, aber handlungstechnisch veraltet und leben
mehr von ihren Andeutungen und ihrer unglaublichen Atmosphäre voller
Irrsinn und Mythen. Das gleiche Konzept nutzt Gruber zu Beginn seiner
Handlung und fährt sehr gut damit. Die Polizei geht von einem
Ritualmord aus, erst die Erkenntnisse der Spurensicherung, daß die Tat
von innen ausgeführt sein könnte, gibt Körner eine gänzlich andere,
vollkommen neue Perspektive. Die in der Vergangenheit spielenden zwei
Handlungsebenen – das Grubenunglück im Jahr 1937 und das Tagebuch des
Küsters, in dem er den geistigen Verfall des angeblich später
ermordeten Pastors Dorn und die Geschichte seines Titel gebenden
Judas-Schreins niedergeschrieben hat – sind klassische Elemente
Lovecrafts und wirken obwohl sehr gut geschrieben wie direkte Hinweise
auf das eigentliche Plotelement. Spätestens nach der Hälfte des Buches
kann Gruber das Geheimnis seiner Idee vor kundigen Lesern nicht mehr
verstecken und während die Polizei noch nach dem »Warum?« fandet,
interessiert die Leser mehr die Frage, wer das anschließende fast schon
obligatorische Sterben überleben wird.

Andreas Gruber scheut sich nicht, sympathische Figuren sterben zu
lassen, auch wenn er die größte Überraschung am Ende des Buches negiert
und sich hier den Unmut seiner Leser zuzieht. Diese Wendung der
Ereignisse ist auch unnötig und inkonsequent. Vielmehr sollte der Tod
außen stehender Charaktere etwas Absolutes darstellen. So hätte der
Autor einen guten Kontrast zu der dörflichen Gemeinschaft darstellen
können.
Die Konfrontation zum Höhepunkt des Romans erinnert auch mehr an eine
Hommage der »Stirb Langsam«-Filme unter extremen Wetterbedingungen, als
an einen gruseligen Unterhaltungsroman. Auch wenn die Symbiose, die
Gruber an verschiedenen Stellen in unterschiedlich deutlichen Details
beschreibt und ihre weit reichenden Folgen andeutet, eine innovative
Zusatzinformation ist, klebt der Roman plottechnisch zu sehr an
Altbekannten. Der geschickte Handlungsaufbau wird durch eine bekannte
und auch nicht irgendwie anders präsentierte Idee negiert.

»Der Judas-Schrein« ist ein weiteres Beispiel für die einfache
Tatsache, daß Andreas Gruber ein lesenswerter Geschichtenerzähler ist.
Wie bei einigen seiner kürzeren Texte liegt seine Schwäche hier im
Geschichtenerfinden. Wer gerne eine weitere Variation der
Lovecraftschen Mythen dieses Mal in der österreichischen Bergen lesen
möchte, der wird prächtig unterhalten. Wer einen atmosphärisch dichten
und stilistisch ansprechenden mit vielen kleinen Details untermalten
Roman lesen möchte, der liegt mit seinem Erstling auch nicht verkehrt.
Wer einen Krimi mit Gruseleinlagen lesen möchte, wird bis zur Hälfte
des Buches sehr gut, danach nur noch bekannt unterhalten. Ging Gruber
mit seinen oft makaberen und den guten Geschmack überschreitenden
Horrorgeschichten den berühmten Schritt zu weit und unterhielt
glänzend, so wirkt dieser Roman besonders in der zweiten Hälfte zu
durchkonstruiert und zu sehr bemüht, einzelne Schockeffekte in eine
schwächelnde Handlung zu integrieren. An manchen Stellen hätte sich ein
aufmerksamer Leser mehr Elan gewünscht, mehr Mut, etwas wirklich Neues
zu präsentieren und die Grenzen zu überschreiten. Interessanterweise
prägen die gleichen Schwächen den Roman »Imagon« von Michael Marrak.
Beide Arbeiten lesen sich sehr ansprechend, verfallen aber im Laufe der
Ereignisse auf die eingetretenen Pfade zurück und hinterlassen im Leser
ein Gefühl der Leere. Und das kommt nicht von den Wesen unter uns.
Daran erkannt der aufmerksame Betrachter, daß Geschichten im
Lovecraft-Universum die ausufernde Phantasie eher hindern und der
Rahmen zu eng gesteckt ist, um wirklich kreativ zu sein. Verschiedene
andere, etablierte Autoren wie Michael Shea weisen in ihren schon in
dieser Reihe erschienenen Romanen ähnliche Symptome auf.

Trotz dieser Schwächen ist »Der Judas-Schrein« für einen Erstling
erstaunlich selbstsicher konzipiert und komponiert und ein weiterer
Beweis für die Vielseitigkeit Grubers. Wenn er sich aus dem Schatten
Lovecrafts befreit, wird er seinen Lesern vielschichtigere und
originellere Texte aus seiner spitzen, heimatverbundenen Feder
präsentieren können. Mit wohligem Schaudern denken wir an das, was noch
kommen kann!