Robert Kraft – König König

König König, (c) Karl May-Verlag

Editon Ustad im Karl May-Verlag
Hardcover, 242 Seiten
Utopische Literatur
ISBN 3-7802-1078-9, Preis 9,90 €

Robert Kraft war zu Lebzeiten einer der meistgelesenen Autoren Deutschlands und stand in direkter Konkurrenz zu Karl May. Kaum 100 Jahre später ist sein Werk fast gänzlich vergessen, obwohl viele seiner Geschichten auch heute noch lesenswert und unterhaltsam sind. Im Karl May-Verlag und bei einigen Kleinverlagen in Wien und Leipzig erscheinen inzwischen seine Romane zum Teil in prächtigen Ausgaben, zum Teil aber auch als Nachdrucke der originalen wöchentlichen Hefte.

Im seinem ersten Literaturabschnitt profitierte der 1869 in Leipzig geborene Emil Robert Kraft von seinen vielfältigen Erfahrungen als Schiffsjunge, Matrose und Koch. Dann trat er der kaiserlichen Marine bei, heiratete als britischer Staatsbürger in London und begann sogenannte Kolportage-Romane zu schreiben. Insgesamt fast 40.000 Druckseiten produzierte er in seinen 21 Jahren als Schriftsteller. Zuerst klassische Seemannsgarnstoffe, dann Abenteuerromane, Krimis und schließlich phantastische Literatur. Der Münchmeyer-Verlag in Dresden baute ihn zum Nachfolger von Karl May auf, auch wenn sich zumindest thematisch seine Romane deutlich von Mays Werken unterschieden. Ab 1901 propagierte man ihn auch als deutsche Jules Verne und er schrieb mit »Aus dem Reich der Phantasie« eine der ersten utopischen Reihen. Nicht zuletzt wegen eines Sprachfehlers lebte Robert Kraft Zeit seines Lebens sehr abgeschieden und starb schließlich 1916.

Mit »König König«, dessen Originaltitel »Wenn ich König wäre« für die Neuauflage geglättet wurde, legt er eine interessante utopische Studie mit phantastischen Anklängen und satirischen Elementen ohne weitreichende wissenschaftliche Thesen vor. Der im selbstgewählten Exil lebende Ex-Lehrer König erbt einen unglaublichen Millionenbetrag. Doch anstatt sein Leben jetzt in Saus und Pracht zu verbringen, kauft er sich einen Luxusliner, tauft ihn Utopia und verschwindet damit aus dem Blickwinkel der Öffentlichkeit.

In der ersten Hälfte des Romans nimmt Robert Kraft auf vielfältige Weise den richtungslosen, aber nach oben strebenden Mittelstand auf die Schippe. Im Vergleich zu Jules Verne, dessen Protagonisten meistens aus der aristokratischen Oberschicht stammten, fällt es hier dem Autoren sichtlich leichter, sein Publikum mit ironischen Spitzen auf seine Seite zu ziehen.

Sowohl die Verwandten des nach außen protzigen, aber verarmten Justitiars, als auch der Schaufensterdekorateur, sehen bei ihrer ersten Begegnung  mit diesem unscheinbaren Mann einen Bettler. Erst als er sich indirekt – beim Justitiar – und direkt beim Dekorateur zu erkennen gibt, werden aus ihnen kriechende Karikaturen im Vergleich zu ihrem ersten großspurigen, arroganten Auftreten. Insbesondere bei seinem ersten Angestellten, eben jenem Dekorateur, legt König Wert darauf, daß er schnell wieder zu einer Persönlichkeit heranreift.

Auch die Begegnung mit dem herrschenden Adel wird zu einer entlarvenden Angelegenheit. Materielle Dinge sind für den Dichter und Philosophen König vollkommen unwichtig, sogar verhaßt. Doch diese wahren Werte zählen in einer materialistisch orientierten Welt nichts. Neben den obligatorischen Bettelbriefen erhält König Hunderte von Anfragen nach neuen Projekten, in erster Linie Luftschiffe – eine Anspielung auf die ungeheuer populäre Serie »Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff«? – und schließlich in den Briefen 103 bis 106 Anfragen nach Geld für die Konstruktion neuartiger U-Boote. Jules Vernes Helden konnten ihre Maschinen noch selbst konstruieren, bezahlen und schließlich in natura einem zahlenden Publikum vorstellen. Es gleicht einer beißenden Satire, daß ein Land im Fortschrittswahn – siehe die Rüstungsausgaben des Kaisers unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg – einen von der Welt abgeschieden lebenden Dichter um materielle Mittel anflehen muß, um seine großspurigen Pläne in die Tat umsetzen zu können.

König erweckt den Eindruck, gute Ideen mit seinem Vermögen fördern zu wollen. Erst gegen Ende des Romans stellt sich die Wahrheit heraus. Im Grunde sucht er nur einen Ersatz für seine in Auflösung begriffene Welt und ist weder an den weltlichen Problemen noch einem breiten technologischen Fortschritt durch die Erfindung neuer Waffen interessiert. Armen Menschen hilft er durch Spenden, ohne das sich daraus ein System ableiten läßt.

Neben einer pointierten Betrachtung des Berliner Milieus zeichnen viele kleine Gesten die erste Hälfte dieses an sich so kurzen und doch inhaltsschweren Romans aus. Dabei vermittelt Robert Kraft seinen Lesern viele dieser Nuancen im Gespräch zwischen Königs Vermieterin und dem amerikanischen Konsul, der den noch unwissenden Erben in seiner kleinen Wohnung in der Färbergasse besucht.

Ein weiteres Merkmal ist der die Handlung tragende Protagonist König. Zu Beginn wird über diesen seltsamen Kauz erzählt, gegen Ende des Buches erscheint er auch zuerst nur als stiller Beobachter. In die Handlung greift er nur im kurzweiligen Mittelteil ein. Hier verblüfft er die Menschheit mit seinen Fähigkeiten. Einen Augenblick erscheint es so, als könne er als neuer Messias die Menschheit zu neuen Ufern, zu einer neuen Existenz führen. Gegen Ende des Buches stellt Robert Kraft diese Andeutungen auf den Kopf und präsentiert König wieder als den verträumten Narren.

Der Leser kann nur schwerlich Sympathien für diese Figur entwickeln. Zu ungläubig folgt der Leser einem Menschen, der sein Geld anlegt, um aus dem Alltag auszusteigen, dessen Zinsen aber nur für ein sehr karges Leben reichen. Anrührend beschreibt Kraft, wie sich König nach elf Jahren mit Brot und Pflaumenmus als reicher Erbe Erdbeeren mit Schlagsahne wünscht und auch erhält. Obwohl von diesem Charakter keinerlei Wärme ausgeht, folgt der Leser seinen eulenspiegelartigen Streichen belustigt und schlägt sich auf seine Seite, wenn er mit der Welt seine Spielchen treibt. Dabei entpuppt er sich in den kurzen, knappen und direkten Dialogen als scharfer und intelligenter Kommentator seiner Umwelt. Er ist durchaus in der Lage, Fehlentwicklungen aufzuzeigen, wenn ihm auch der Elan fehlt, diese Richtung zu korrigieren.

Ein abrupter Perspektiv- und vor allem Erzählerwechsel öffnet den Roman. Die »Utopia« rettet dreizehn adlige Schiffbrüchige und führt ihnen eine schier unglaubliche Technik vor. Anscheinend kann Gedankenkraft das Schiff in Sekunden über den Erdball bewegen. Außerdem macht es sich unsichtbar. Staunend offenbart König seinen Gästen diese auf den alten Lehren des Mahatmas basierende Lehre. Erst gegen Ende des Romans ziehen Autor und König den Schleier von den Augen der Protagonisten und Leser.

In der gesamten Konstellation des Romans beschäftigt sich Robert Kraft mit der Illusion und daraus folgernd mit der menschlichen Zufriedenheit. Sein König ist elf Jahre in seinen Träumen um die Welt gereist und hat als König ein Phantasiereich regiert. Kaum hat er die Erbschaft angetreten und ist einer der mächtigsten Männer der Erde geworden, entzieht er sich dem Druck der Öffentlichkeit wieder und erschafft dieses Mal realer und nicht in der Dachkammer seine zweite Illusion. Der Kreis schließt sich für ihn und der Leser erkennt, daß Geld alleine zwar mächtig, aber nicht glücklich macht.

Am lesenswertesten sind im Nachhinein betrachtet die beiden Szenen, in denen er staunenden Reportern sein photographisches Gedächtnis vorführt und in der er dem Adel ihre Gier vor Augen hält und ihnen aufzeigt, daß alles Gold der Welt isoliert betrachtet wertlos ist. Daß dieser so weise Mann hier eine weitere Geschichte spinnt, schließt die verschiedenen Kreise des Buches glänzend auf und ab.

Der Leser stellt sich die Frage, ob der in der zweiten Hälfte des Buches übergeordnete Erzähler nicht nur ein Synonym Königs ist – sein plötzliches Verschwinden am Ende des Buches nicht mit dem Tod, sondern nur dem Ende eines Erzählstranges gleichzusetzen ist.

Über weite Strecken greift Robert Kraft einige phantastische Ideen Jules Vernes auf und demaskiert sie als Illusionen. So simpel und effektiv diese Thesen auch sind, tragen sie den Keim des Zweifels in sich: warum sich diese ungeheure Mühe machen, wenn die »Utopia« erstens keine Besucher an Bord nimmt, die man hereinlegen kann, zweitens die Besatzung das Geheimnis kennt und drittens König diese Inszenierung nicht benötigt, um sich in sein Traumkönigreich zurückzuziehen. Hier fesselt Robert Kraft mit Anspielungen auf Vernes Romane »Robur der Eroberer« oder »Die Propellerinsel« in der Luft und natürlich »20.000 Meilen unter dem Meer« seine Leser, um ihnen einem Varietekünstler gleich auf dem Höhepunkt mit einem simplen Trick den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Erst in der Nachbetrachtung entpuppt sich diese Szenerie als unlogisch, bei der Lektüre verblüfft der Autor Leser und Gäste. Anklänge an einige der philosophischen Werke H.G. Wells finden sich zwischen den Zeilen.

Die Technologie wird von Robert Kraft mit diesem literarischen Kniff an die richtige Stelle gerückt – sie dient als Hilfsmittel zum Glück, wirkt aber weder übermächtig noch erdrückend. Der Mensch und in diesem Roman der Träumer steht im Mittelpunkt. Über weite Strecken ersetzt Kraft die Technik durch esoterischen Glauben, um schließlich alles als Illusionen zu entlarven. Was paßt besser zu einem dem Leben entsagenden Kauz als ein Gedankenschloß? Robert Kraft hat mit seinem Protagonisten, aber auch der Konzeption dieses kleinen Romans ein ungewöhnliches Werk geschaffen, dessen geistige Haltung in eine andere Richtung geht als das Fortschrittsstreben eines machthungrigen Kaiserreiches.

Kurzweilig und mit einem Augenzwinkern überrascht »König König« nicht als utopischer Roman, sondern als Traum mit einem Fuß in der Realität, ein intelligentes Spiel mit den Konventionen und schließlich als eine ironische Betrachtung verschiedener gesellschaftlicher Strömungen.