Graham Joyce – Requiem

Requiem

Bastei-Lübbe, TB 13724
Titel der Originalausgabe: »Requiem«
aus dem Englischen von Barbara Först
Titelbild von xxx
Februar 1999, 12,90 DM, 346 Seiten

Auch wenn seine neue Romane nicht mehr in Wien spielen, wird Jonathan Carroll für immer mit dieser geschichtsträchtigen Stadt verbunden sein. Kein anderer Autor hat das Genre DARK FANTASY (gruselige Geschichten phantastischen Inhalts) so sehr geprägt wie dieser Amerikaner. Einige seiner Bücher sind so unheimlich, daß man sich während und ganz besonders nach der Lektüre immer wieder über die Schulter guckt. Viele vergleichen den Engländer Graham Joyce inzwischen mit Carroll, aber seine Romane sind mehr psychologische Thriller, die stark von ihrer Stimmung und den exotischen Plätzen (die griechische Insel Lesbos, das Innere Thailand oder wie hier Jerusalem) als von einem Plot leben.

Joyce ist in England inzwischen viermal mit dem British Fantasy Award ausgezeichnet worden, eine Besonderheit, die dadurch unterstrichen wird, daß jedes der ausgezeichneten Werke sich völlig von den anderen unterscheidet. Bevor sich Joyce im Jahre 1991 nach der Veröffentlichung von DREAMSIDE als Schriftsteller selbstständig machte, arbeitete er in verschiedenen Jobs. Schon in der Schule wollte er immer Schriftsteller werden und seine ersten Arbeiten beschäftigen sich mit der Fußballschulmannschaft. Als arbeitsloser Torwart (das Team war zu überlegen) versuchte er den Werdegang seiner Mannschaft innerhalb einer Saison aufzuschreiben. Nick Hornby hat später mit seinem sehr empfehlenswerten FEVRE PITCH (Ballspieler) das Meisterwerk aller Hommagen an seinen Fußballverein geschrieben. Noch heute ist Joyce Fan von Coventry City. Im Anschluß an die Schule jobbte er als Packer, Bingorufer, Entertainer in einem Urlaubscamp für Mienenarbeiter und später als Jugendarbeiter. In erster Linie stellten diese Job nur eine Ergänzung zu seinem Traum dar, freier Schriftsteller zu werden. Allerdings nahmen sie ihm auch für viele Jahre die Energie, diesen Traum richtig zu verfolgen. Erst mit Mitte dreißig verabschiedete er sich für ein Jahr von der Zivilisation, zog sich auf die griechische Insel Lesbos zurück und schrieb den Roman DREAMSIDE, der tatsächlich angekauft wurde. Joyce schrieb zu diesem Zeitpunkt alles, was ihm in den Sinn kam. In erster Linie Gedichte und Kurzgeschichten ohne Rücksicht auf das Genre. Der Hauptteil seiner Werke drehte sich um Träume, veränderte Bewußtseinstadien und Halluzinationen. Selbst heute wissen seine Protagonisten oft nicht, ob die Erlebnisse wahr sind oder nur das grausame Spiele fremder Mächte.

Nach dem tragischen Unfalltod seiner Frau auf dem Rückweg von der Kirche, kündigt Tom Webster seine Stellung als Lehrer. Nicht nur der Verlust, sondern auch beleidigende Schmierereien an der Schultafel treiben in zuerst in eine selbst gewählte Isolation, bevor er beschließt, seine Schulfreundin Sharon in Jerusalem aufzusuchen. Da er sie zuerst nicht antrifft, mietet er sich in einer kleinen Pension ein, in der er den Gelehrten David Feldberg trifft. Dieser hat die Pension seit mehr als fünfzehn Jahren nicht mehr verlassen und übergibt ihm kurz vor seinem Tod mehrere Originalschriftrollen, in denen die Rolle Maria Magdalenas ganz anders als in der Bibel beschrieben worden ist. Tom soll die Rollen aus Jerusalem herausschmuggeln und sie dann an verschiedene Organisationen übergeben. Mit dieser Aufgabe ist Tom vollkommen überfordert, zumal ihm immer wieder eine alte Frau und seine tote Ehefrau im brodelnden Jerusalem begegnen. Anfangs hofft Sharon, Tom durch ihre eigene Liebe aus den Klauen des Wahnsinns zu befreien, doch schnell merkt sie, daß sie ihm damit vielleicht noch mehr in die Hände dieser geheimnisvollen Mächte treibt.

Wie in seinem ersten Roman spielt die Kulisse eine tragende Rolle. Jerusalem, die geteilte Stadt, die Hauptstadt verschiedener Religionen zur Zeit der Aufstände der Palästinenser gegen die Juden bietet einen faszinierenden Hintergrund für eine ruhige Geschichte. Die Rollen bedeuten den handelnden Figuren kaum etwas. Zu sehr sind sie mit sich selbst beschäftigt und Tom verliert immer mehr seinen Bezug zur Realität. Schuldgefühle, Phantastereien und Selbstzweifel drohen ihn zu ersticken. An jeder Ecke sieht er seine tote Frau, an deren Unfall er indirekt auch seine Schuld trägt. Er versucht sich reinzuwaschen, in dem er schließlich sich seinem persönlichen Dschinn stellt, ohne zu wissen, welche Katastrophe er damit heraufbeschwört.

Genau wie Jonathan Carroll gelingt es Graham Joyce eine dunkle Atmosphäre aus dem Nichts heraufzubeschwören. Seine Figuren sind überzeugend beschrieben, handeln menschlich und versuchen den zukünftigen Ereignisse erhobenen Hauptes zu begegnen. Dabei stecken sie voller Fehler und Selbstzweifel. Nur ab und zu benutzt Joyce Thrillerelemente zur Belebung seiner Handlung. Mit wenigen alltäglich erscheinenden Szenen skizziert er das Ausgangsszenario und läßt seine Figuren dann auf der Bühne vor einem schönen Hintergrund spielen. Im Gegensatz zu seinen bekannteren Kollegen Koontz oder King, die große Epen mit einfachen Charakteren entwerfen, beherrscht Joyce den stillen Horror. Für einige Leser kann der Roman zu ruhig sein, wer den subtilen Horror mag, kommt an Joyce nicht vorbei und REQUIEM ist ein guter Start.