Tor Books
Erstausgabe Dezember 1999
Titeldesign von
New York 1999, $ 6.99, 304 Seiten
Alles schon einmal dagewesen: Im Jahr 1934 hat Murray Leinster mit „Sidewise in Time“ eine Kurzgeschichte geschrieben, in der verschiedene Ereignisse aus Parallelwelten plötzlich wie durch eine Membran in das jetzige Universum eindrangen und den Protagonisten einen Einblick in die verschiedenen möglichen Welten ermöglichte. John Barnes denkt diese Idee in seinem neusten Roman konsequent weiter: Nicht nur die Welten überlappen sich, sondern die Menschen werden urplötzlich durch ein Ich aus einer anderen Dimension ersetzt.
Der Roman spielt in diesem Jahrtausend. Deutschland hat den zweiten Weltkrieg gewonnen, die Welt ist eingeteilt in die besetzten Teile, die aus autonomen Reichen besteht und der neutralen Welt, der technologischer Fortschritt vorenthalten wird als Gegenleistung für ihre Neutralität. Dem im freien Neuseeland wohnenden Examerikaner Lyle Peripart wird von Geoffrey Iphwin, einem anderen im Exil lebenden Amerikaner, ein sehr gut bezahlter Job angeboten. Iphwin hat sein Vermögen mit der Firma ConTech gemacht, die im Reich Hongkong angesiedelt ist. Diese Firma wird von mächtigen Konzernen angegriffen und der Mathematiker Peripart soll mit Hilfe von abstrakter Mathematik Gegenmaßnahmen entwickelt. Leider verrät uns Barnes nie, wie diese Abwehrstrategien ausgesehen hätten. Nachdem Peripart den Job übernommen hat, gerät seine Welt einem Dick-Roman ähnlich aus den Fugen. Sein Flugboot hat keinen Treibstoff mehr, weil es während des Jobinterviews zu einer Spritztour veranlaßt worden ist. Peripart kann sich an nichts erinnern und ist noch überraschter als er plötzlich erfährt, daß seine Freundin inzwischen in einem teuren Hotel angekommen ist, um mit ihm zu feiern (und er ihr dafür sein Boot gegeben hat). Bei dem Abendessen entpuppt sie sich als feiste Agentin, die das Leben der Beiden verteidigt und einen Angreifer gezielt – in Notwehr-, aber sehr gekonnt erschießt, ohne vorher zu wissen, daß sie eine Waffe in ihrem kurzen Kleid versteckt hat. Immer mehr Teile der Welt scheinen sich zu verändern. Die Protagonisten können nur ganz langsam über die verschwundenen Teile sprechen, so fern sie sich überhaupt noch daran erinnern. Der Schlüssel des Rätsels scheint in diesem geheimnisvollen Amerika zu liegen, von dem seit vielen Jahren niemand mehr offiziell etwas gehört hat, geschweige denn, jemand weiß, wo das Land überhaupt liegt.
Zu Beginn wird der Leser an einen Philip K. Dick Roman erinnert. Pelipart unterhält sich sehr lange mit seinem Haus und später seinem intelligenten Boot, bzw. einem Taxi. Anfänglich unterhaltsam, ermüdet man sehr schnell, denn bevor das Buch überhaupt Fahrt aufnimmt, kommt der Plot schon wieder zum Erliegen. Barnes wollte sicherlich die technologischen Unterschiede zwischen den Reichen und der zurückgebliebenen restlichen Welt aufzeigen, überspannt den Bogen aber bei weitem. Dazu fehlt der Einblick in diese Alternativwelt, zu gering sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Enklaven. Auch im Laufe der Handlung kann Barnes die verschiedenen Parallelweltebenen schwer zusammenhalten, was faszinierend beginnt mit einem geheimnisvollen Attentat, der undurchschaubaren Firma ConTech und der befremdlichen Weltbühne zerfällt in einige wenige Actionszenen und eine erstaunlich erotische sm-Nummer, die in einem keinem Zusammenhang mit der bisherigen Handlung steht. Barnes schafft es zu keiner Zeit, seine theoretischen Gedankenspiele in die Handlung einzubauen und am Ende braucht er schon einen arg konstruierten Schluß, um sich aus seinem Buch zu befreien. Das ganze wirkt eher wie ein Roman aus den fünfziger oder sechziger Jahre, leider nicht wie ein Buch des nächsten Jahrtausend und so bleibt vieles in diesem Roman eben „finity“ und nicht „infinity“, wie es sich der Leser wünscht. Eine sehr gute Grundidee wurde zu schwach ausgeführt und obwohl sich viele seiner neueren Romane mit der Idee von Parallelwelten beschäftigen, schafft es Barnes nicht, sich dieser Theorie wirklich zu nähern.