Deutscher Science Fiction Preis 2006: Die Gewinner!

Am 24. Juni 2006 wurden in der Hansestadt Lübeck die Preisträger des »Deutschen Science Fiction Preis 2006« bekanntgegeben. Beide Preisträger waren anwesend und nahmen auf dem Jahrescon des Science Fiction Club Deutschlands e. V. die Auszeichnung persönlich entgegen.

Medaille DSFP

Mit dem »Deutschen Science Fiction Preis« würdigt der Science Fiction Club Deutschland e.V. (gegr. 1955) den besten deutschsprachigen Roman und die beste deutschsprachige Kurzgeschichte des Vorjahres im Genre. Der Preis ist mit je 1000 Euro pro Sparte dotiert und damit die einzige derartige Auszeichnung für phantastische Literatur in Deutschland. Die Gewinner erhalten außerdem eine von Andreas Eschbach (Autor von »Jesus Video«) gestiftete Medaille.

Der Deutsche Science Fiction Preis wird von einem Preiskomitee vergeben, daß alle relevanten Neuerscheinungen des Vorjahres erfaßt und liest.

Bester Roman

»Das Cusanus-Spiel«
von Wolfgang Jeschke
Droemer/Knaur, ISBN 3-426-19700-6
jetzt bestellen

Beste Kurzgeschichte
»Psyhack«
von Michael K. Iwoleit
in »Nova 8«, Verlag Nummer Eins, ISBN 3-833-43445-7
jetzt bestellen

Laudatio auf »Das Cusanus-Spiel« von Wolfgang Jeschke

Das Cusanus Spiel

Wie Hunde, die gelernt haben, die Türen von U-Bahnen zu bedienen, fühlen sich die Wissenschaftler im Casimir-Institut von Amsterdam. Jahr um Jahr tasten sie sich weiter in die Vergangenheit vor, mit Hilfe einer Technik, die ihnen so unverständlich ist wie einem Menschen des 15. Jahrhunderts eine Schneise der Verwüstung durch Mitteleuropa, ausgelöst 2028 durch einen Unfall im Kernkraftwerk Cattenom.
24 Jahre danach ist die Festung Europa dabei, die Folgen dieser und anderer Katastrophen mühsam zu reparieren und sich des Ansturms afrikanischer Flüchtlinge zu erwehren. Man ist darin immerhin erfolgreicher als im Kampf gegen die vordringende Sahara. Japanische Nanotechnik soll Venedig vor dem Untergang bewahren, während sich der Vatikan eine Ersatzresidenz in Salzburg aufbaut und die mysteriöse »Rinascita della Creazione di Dio« finanziert.
Domenica Ligrina, Hauptfigur des Romans und Chronistin der Geschehnisse, bewirbt sich für dieses Projekt als Botanikerin, erhält in Venedig ihre Grundausbildung und reist in einem versiegelten Zug quer durch das verstrahlte Deutschland nach Amsterdam, ihrem Einsatzort.
Gegen die Veränderung bedeutender geschichtliche Wendepunkte scheint sich die Zeit selbst zu stemmen, Hightech-Spezialisten müssen sich also damit begnügen, Korrekturen an kleineren Ereignissen der nahen Vergangenheit vorzunehmen. Domenica wiederum soll sich im Köln des Jahres 1452 niederlassen, auf Exkursionen in die Umgebung Proben der noch unverfälschten Pflanzenwelt sammeln und ihre Ausbeute zur Wiederherstellung der Schöpfung Gottes in ihre Gegenwart hinüberretten.
Ihre Tarnexistenz – Gehilfin eines niederländischen Apothekers – bewahrt sie allerdings nicht davor, von übel wollenden „Zeitheimischen“ der Hexerei angeklagt und eingekerkert zu werden. Selbst ein aufgeklärter Geist wie Nicolaus Cusanus kann sich nur schwer gegen eine Bevölkerung behaupten, die angesichts politischer und religiöser Umwälzungen ihre Ängste durch die Verfolgung von Juden und angeblicher Hexen zu kompensieren versucht – so wie Jahrhunderte später faschistische Gruppen Einwanderer massakrieren, die den verödeten Osten Deutschlands wiederbeleben wollen. Andererseits: Wenn Cusanus doch die Chance gehabt hätte, wäre dann alles anders, besser oder besser doch nicht anders gekommen?

Die Handlung des Buches in wenigen Absätzen wiederzugeben, scheitert ebenso wie der Versuch, es in eine der vielen Schubladen der Science Fiction-Literatur zu zwängen. Es paßt ohnehin besser in eine Vitrine, zwischen die eher auf mentalen Fähigkeiten beruhenden Zeitreisegeschichten Jack Finneys und ihre physikalischen Gegenstücke der Hard SF, neben die Katastrophenromane eines John Brunner und nicht zuletzt in unmittelbare Nachbarschaft zu den Werken Carl Amerys.
Den Leser erwartet ein Reiseführer: Durch ein kaum noch wiederzuerkennendes Mitteleuropa, das sich wie der Rest der Welt gravierenden ökologischen, ökonomischen und sozialen Umwälzungen ausgesetzt sieht. Durch eine geographische und geistige Landschaft zwischen Mittelalter und Neuzeit, deren Bewohner ihr Leben zwischen Ungeziefer und Aberglauben fristen. Und nicht zuletzt durch die philosophisch und wissenschaftlich kaum zu erfassenden Gefilde der Zeit mit ihren seltsamen Lebewesen.
Es ist kein leichtes Unterfangen, dies alles unter einen Hut oder – besser gesagt – zwischen die Einbände eines Buches zu bringen. Viele erschaffen aus dem Steinbruch der Science Fiction kaum mehr als eine windschiefe Hütte oder im besten Falle einen pompösen Landsitz auf wackligem Fundament. Es ist uns deshalb eine Ehre, den Deutschen Science Fiction Preis 2006 für den besten Roman des vorangegangenen Jahres an Wolfgang Jeschke für »Das Cusanus-Spiel« zu verleihen, das es aus literarischer Sicht durchaus mit den darin beschriebenen Bauwerken Venedigs aufnehmen kann.

Thomas Recktenwald – für das Preiskomitee, Juni 2006

Laudatio auf »Psyhack« von Michael K. Iwoleit

Nova 8

Mitte des 21. Jahrhunderts. Marek Yanner hat einen einträglichen Job. In den Slums irgendwelcher Dritte-Welt-Megalopolen treibt er junge Mädchen auf, in deren Gebärmüttern er wertvolle Ware heranzüchtet: Ersatzorgane für die wenigen Reichen dieser Welt. Daß die meisten Mädchen bei der Prozedur sterben, wird als Kollateralschaden in Kauf genommen. Nach Aussage seines Auftraggebers hat Marek nur einen Fehler: nämlich ein Gewissen. Doch das plagt ihn nicht allzu lange – wird er doch nach jedem Auftrag einer Mnemotomie unterzogen, einem kompletten Austausch seines Bewußtseins. Danach ist Marek quasi ein neuer Mensch, der sich nur noch an die Dinge erinnert, die er für den nächsten Auftrag braucht.

Beim letzten Eingriff ist jedoch etwas schief gelaufen. Erinnerungen an Kinder in einem irischen Krankenhaus peinigen ihn. Als Marek bei einem fingierten Vorstellungsgespräch außer Kontrolle gerät, wird ihm klar: Er wurde Opfer eines Psyhacks. Das implantierte Bewußtsein enthielt ein Virusprogramm, das sich auf ein äußeres Signal hin aktivierte.

In »Psyhack« geht es um das Thema Identität. Für Marek Yanner stellt sich das Problem in verschärfter Form, denn für ihn geht nicht nur darum, die eigene Vergangenheit anzunehmen. Yanner muß seine Vergangenheit erst einmal finden, sie ist ihm durch die Bewußtseinstransfers abhanden gekommen. Es stellt sich auch die Frage nach der Verantwortlichkeit des Einzelnen in einer Welt, in der Bewußtsein und Seele quasi am Reißbrett manipuliert werden können.

Michael K. Iwoleit verpackt diese philosophischen Fragen in eine packende Thriller-Handlung. Vom ersten Satz an zerrt er den Leser in eine Welt hinein, in der ein Menschenleben soviel wert ist, wie der Besitzer dafür zahlen kann. Doch das ist nur der Einstieg zu einer temporeichen »tour de force« auf der Suche nach der Vergangenheit und einer lebenswerten Zukunft, spannend bis zum Schluß.

Michael K. Iwoleit ist unbestritten der Meister der deutschen SF-Novelle. Nach »Wege ins Licht« und »Ich fürchte kein Unglück« ist »Psyhack« bereits der dritte Text dieser Gattung, der mit dem »Deutschen Science Fiction Preis« ausgezeichnet wird. Waren seine Protagonisten bislang Ausnahme-Individuen – ein ungewollt Unsterblicher bei »Wege ins Licht« bzw. ein wissenschaftliches Genie in »Ich fürchte
kein Unglück« – ist der Held von »Psyhack« ein ganz normaler Arzt, der die Welt ein wenig besser machen will und sich dabei auf tragische Art in kriminelle Machenschaften verstrickt.
Im Jahr 2005 wurden etwa 150 deutschsprachige SF-Kurzgeschichten publiziert. »Psyhack« von Michael K. Iwoleit ragt aus dieser auch qualitativ starken Konkurrenz hervor. Deshalb wird ihm der »Deutsche Science Fiction Preis« für die »Beste Kurzgeschichte« verliehen.

Dr. Ralf Bodemann – für das Preiskomitee, Juni 2006

Alle Plazierungen in der Übersicht:

Roman

1. »Das Cusanus-Spiel« von Wolfgang Jeschke
Droemer/Knaur, ISBN 3-426-19700-6

2. »Das Paradies am Rande der Stadt« von Volker Strübing
Yedermann, ISBN 3-935-26930-7

3. »42« von Thomas Lehr
Aufbau-Verlag, ISBN 3-351-03042-8

4. »Coruum, Vol. 1« von Michael R. Baier
Verlag Michael Baier, ISBN 3-000-16257-7

5. »Morphogenesis« von Michel Marrak
Bastei-Lübbe, ISBN 3-404-24339-0

Kurzgeschichte

1. »Psyhack« von Michael K. Iwoleit
in »Nova 8, Verlag Nummer Eins, ISBN 3-833-43445-7

2. »Warten auf Kogai« von Thorsten Küper
in Nova 7, Verlag Nummer Eins

3. »Spiegelbild des Teufels« von Thorsten Küper
in »Die Legende von Eden (Visionen 2005)«, Shayol Verlag, ISBN 3-404-24326-9

4. »Die Legende von Eden« von Frank Haubold
in »Die Legende von Eden (Visionen 2005)«, Shayol Verlag, ISBN 3-404-24326-9

5. »An e-Star is born« von Rainer Erler
in »Die Legende von Eden (Visionen 2005)«, Shayol Verlag, ISBN 3-404-24326-9

6. »Planck-Zeit« von Michael K. Iwoleit
in »Die Legende von Eden (Visionen 2005)«, Shayol Verlag, ISBN 3-404-24326-9

7. »Memories« von Frank Hebben
in c’t 8/2005, Heise Verlag

8. »Elisa« von Heidrun Jähnchen
in c’t 15/2005, Heise Verlag


Quelle: DSFP-Komitee 2005/2006