Herbert W. Franke – Cyber City Süd

Originalausgabe
Roman
dtv premium im Großformat
320 Seiten, ISBN 3-423-24470-4, 15,- €

Nachdem Herbert W. Franke mit »Sphinx_2« im Jahr 2003 so etwas wie ein Comeback feiern konnte, erschien nun mit »Cyber City Süd« sein neuster Roman.

Schon in den sechziger Jahren hatte sich Franke als Herausgeber der Weltraumtaschenbücher im Goldmann-Verlag etabliert. Diese zeichneten sich durch geradlinige, wissenschaftliche spekulative, aber fundierte Hintergründe aus und versammelten damals mit Isaac Asimov, Poul Anderson und Arthur C. Clarke die damalige Elite der Science Fiction. Später fügte sich unter anderem Theodore Sturgeon in diesen elitären Reigen ein.

Seine ersten Romane und Kurzgeschichten veröffentlichte Franke im Rahmen dieser Reihe. Mitte der siebziger Jahre wechselte er dann zum Heyne-Verlag und arbeitete mit Wolfgang Jeschke an der Gestaltung der Science Fiction-Reihe. In den achtziger Jahren zog er sich von der Herausgeberposition zurück und konzentrierte sich auf sein eigenes literarisches Werk. In regelmäßigen Abständen erschienen im Rahmen des Suhrkamp-Verlages seine Romane. Daneben veröffentlichte er sekundärliterarische Schriften zur Höhlenforschung und setzte sich mit der Computerkunst auseinander.

Herbert W. Franke steckt seinen Handlungsbogen in »Cyber City Süd« weit. Dabei baut er um seine Handlung einen klassischen Rahmen, der die Zeitlosigkeit der Schöpfung – in diesem Fall der majestätischen Wüste – demonstriert und zeigt, daß Menschenwerk vergänglich ist. Was paßt besser zu dieser scheinbaren Unendlichkeit als die Suche eines Menschen nach ihrer eigenen Vergangenheit? Zuerst steht also eine klassische Quest im Vordergrund, die der Katalysator für eine Reihe von dann allerdings oft oberflächlichen und zu simpel realisierten Ereignissen ist. Madja sucht in »Cyber City Süd«, einem im arabischen Raum aufgebauten, künstlichen Vergnügungscenter, nach Spuren ihres Vaters. Dieser hat vor zwanzig Jahren und einem unheilvollen, von westlichen Mächten angezettelten Krieg, dort nach Wasservorkommen gesucht. Seine einzige Hinterlassenschaft waren vier Briefe, von denen einer eine Karte eines unglaublich großen Wasservorkommens enthält. Hier nutzt Franke deutliche Bezüge zum zweiten Irak-Krieg und geht kritisch an die Materie heran. Politisch etwas unbeholfen schildert er nur die Folgen dieses Krieges für die armen Teile der Bevölkerung und natürlich die Opportunisten, die vor dem Krieg vom Regime profitiert haben und dann ihre flexible Loyalität auf die kapitalistischen Machthaber und deren Schattenkabinett übertragen haben. Der aufmerksame Leser vermißt allerdings kritische Töne gegenüber der alten, diktatorischen Regierung und so wirkt die Abfolge der Ereignisse sehr pro-arabisch und ein bißchen polemisch. Madja muß schnell feststellen, daß die Vergangenheit bei weitem nicht so weit entfernt ist und sich einige Mächte immer noch für ihren Vater interessieren.

War »Sphinx_2« vordergründig die Warnung vor weiterer genetischer Forschung und immer gefahrvoller werdenden Cloning-Prozessen, so verbindet der Autor mit diesem Roman verschiedene Ebenen zu einem über weite Strecken hin sehr lesenswerten kompakten Werk: Wie schon angedeutet stehen die Bezüge zum letzten Irak-Krieg im Mittelpunkt der Handlung und der Leser verfolgt deren Auswirkungen. Von der Welt um ihr Öl betrogen, beuten die westlichen Länder dank einer Reihe von Stellvertretern vor Ort weiterhin die einfachen Araber aus. Dieses Mal heißt das Spiel hemmungsloses Vergnügen in Form diverser Illusionen in einer künstlichen Stadt, abgeschottet von jeglichem Kontakt mit der arabischen Realität. Über allem schwebt das kapitalistische Damoklesschwert und der instabile Frieden. Schnell werden die Geister der Vergangenheit wieder heraufbeschworen, die Machtheber, die sich nach dem kurzen, intensiven Krieg mit einer technologisch überlegenen Macht in den Untergrund zurückgezogen haben. Sie werden vom Volk nicht geliebt, stellen aber für viele das kleinere Übel dar.

Franke vergibt allerdings die große Chance, eine Welt ohne Öl – es wird nur noch von Chemiefirmen als Grundrohstoff genutzt – zu beschreiben und die oft katastrophalen Auswirkungen auf die Industrienationen zu schildern. Insbesondere die letzten beiden Jahre haben gezeigt, daß sich die Industrienationen, inklusive China, wieder in die Abhängigkeit des Öls begeben, statt nach neuen Energiequellen zu suchen.

Der Zeitraum von zwanzig Jahren vom Kriegsende bis zu Madjas Besuch in Cyber City und dem Run auf die Karte ist zu weit gegriffen. Daß die Reste der alten Regierung diese Zeit in kurz vor Ende des Krieges ausgehobenen Bunkern ausgeharrt haben, um einen neuen Krieg vorzubereiten und ausgerechnet in diesem Moment zuschlagen, in welchem Madja durch die Stadt irrt, wirkt konstruiert und erzwungen. Ihr Ziel ist die Machtübernahme und die Vernichtung der kapitalistischen Vergnügungsstadt, die gegen den moslemischen Glauben und natürlich die wieder erstarkten Unabhängigkeitsbestrebungen der arabischen Welt verstößt. Die Frage ist, warum sie nicht vorher mit Terroranschlägen den Bau der Stadt beeinträchtigt oder verhindert haben? Außerdem konnten sie ihre Sprengstoffe zu leicht in oder unter der Stadt verteilen, um das Schandmal von der Erde zu vertilgen. Hier liegt eine weitere Problematik, denn betrachtet man nur den technologischen Fortschritt im Bereich der Waffenentwicklung, so erscheint es gänzlich unwahrscheinlich, daß Satelliten nicht diese Bunker finden könnte. Zwischen der Drohung mit der Sprengung eines Turms und dem Attentat auf die Stadt liegen fünf Tage, in denen zumindest die Amerikaner die Wüste umgegraben hätten, um die Feinde des Systems zu finden. Alte Karten und Satellitenaufnahmen hätten gereicht, um die Standpunkte sofort zu finden. Erfahrungen aus den bisherigen Kriegen haben gezeigt, daß die westlichen Mächte schon sehr gut über alle größeren Aktivitäten kurz vor Kriegsbeginn informiert gewesen sind.

Viele dieser Szenen hätten effektiver gewirkt, wenn Franke den Roman zwei oder drei Jahre nach dem Krieg angesiedelt hätte. Frankes Welt wirkt scheinbar zu geordnet und die politischen Strukturen unter dem Einfluß der Konzerne zu gefestigt. Daß sich in der Umgebung der Stadt nicht viel geändert hat und nur wenige Araber dort Arbeit gefunden haben, spiegelt sich in einigen Szenen wieder.

In diesen Hexenkessel kommt mit Madja eine junge, wahrscheinlich auch sehr gut aussehende Frau und sucht nach einer Vergangenheit, die viele aus diversen Gründen begraben sehen möchte, während sie für Andere eine Chance auf eine vielleicht bessere Zukunft darstellt. Hier liegt auch eine große Schwachstelle dieses Romans. Niemand nimmt Franke ab, daß alle Machthaber und ein großer europäischer Konzern zwanzig Jahre auf Madja gewartet haben, um an die einmalige Skizze dieses großen Wasservorkommens zu kommen. Die Herrscher können alle Schritte ihres Vaters rekonstruieren und hätten keine Probleme, neue Echolotmessungen mit verbesserter Technik – zwanzig Jahre später und mindestens eine Generation weiter! – durchzuführen. Wie einige andere Szenen, in denen das neue, westlich orientierte, doch innerlich den alten Strukturen nachhängende Regime unglücklich agiert, wirken diese Passagen aufgesetzt und konstruiert. Als wenn Franke einen Kumulationspunkt benötigt hat, um eine bedrohliche Atmosphäre aufzubauen. Außerdem kann sich Madja zu schnell und zu intelligent aus diesen Situationen herauswinden und zu oft helfen ihr Leute, um die arabische Mentalität zu beweisen. Dabei erinnern einige Passagen an Märchen aus »1001 Nacht«. So befreit der sympathische Arzt Madja aus einem Gefängnis, in dem in erster Linie Frauen freiwillig oder erzwungen ihre Dienste reichen Arabern anbieten. Kurz darauf sucht sie mit Khalid, dem Sohn eines der mächtigsten Männer dieses Landes, nach weiteren Spuren. Khalid fungiert als Doppelagent für seinen Vater, verliebt sich aber in die westliche Schönheit und hilft ihr schließlich zu fliehen. Auch wenn diese Szenen routiniert und phasenweise emotional überzeugend geschrieben worden sind, kommt doch ein gewisser Brooke Shields-Flair auf.

Auch die politische Struktur der Romans in dieser Konzeption ist phasenweise fragwürdig und einseitig. Dabei verteufelt Franke alle westlichen Konzerne als kapitalistisch und entblößt ihre Geschäftspolitik als menschenverachtend. Mit diesen Vorgaben zeichnet er ein genauso unrealistisches und einseitiges Bild wie er verschweigt, daß wahrscheinlich der Angriff der westlichen Mächte auf das arabische Land völkerrechtlich fragwürdig, aber in Bezug auf ein diktatorisches Regime zumindest vertretbar sein könnte. Der Leser erfährt auch wenig über die politische Vorgeschichte. Den Drang einzelner arabischer Gruppen, pro westlich und pro kapitalistisch zu sein, verschweigt Franke genauso wie die Anziehungskraft der magischen Dollar in fast jeder Nation der Welt. Auch wenn sie nicht mehr in ihren originären Siedlungen leben, haben sich viele mit der neuen kapitalistischen Ordnung arrangiert und können von ihr leben.

Die Massenmedien stellt Franke an den Pranger. Schauprozesse werden abgehalten, der Andrang von Zuschauern ist riesengroß, die Auswirkung eher fragwürdig. Wie schon in »Sphinx_2« streut er diese Handlungsebene in Form von Protokollen und Aufzeichnungen der einzelnen Verhandlungen in die ablaufenden Ereignisse. Auch hier stellen sich dem Leser zwei Fragen: warum zwanzig Jahre später? Sind die Täter gerade erst gefunden und verhaftet worden? Würde die Tatsache, daß man immer noch Kriegsverbrecher findet, nicht das Regime alarmieren und die Suche nach der Bedrohung intensivieren?

Trotz dieser elementaren Schwächen schafft Franke einige sehr schöne Momente. Das Ende ist schon von poetischer Kraft und ein Zeugnis für die Willensstärke der Menschen. Daneben überzeugen einige interessante Szenen zu Beginn des Romans. Kurz, prägnant und präzise entwickelt Franke seine künstliche Welt und integriert diese in ein Abbild der gegenwärtigen Realität. Dabei gelingt ihm ein nahtloser Übergang von dieser in eine Spekulation und Extrapolation gegenwärtiger gesellschaftlicher Strömungen. In Bezug auf das angebotene Spektrum bleibt Franke im Vergleich zu jungen, amerikanischen Kollegen brav. Sextourismus – sicherlich eine Zugfeder in einem überdimensionalen Disney-Land für Erwachsene – wird nicht erwähnt. Hier schreibt Franke für ein intellektuelles Publikum.

Im Gegensatz zu vielen anderen seiner Romane vernachlässigt er auch nicht eine geradlinige, nachvollziehbare Handlung. Obwohl in dieser Konstellation wegen der zeitliche Komponente und dem MacGuffin schwer nachvollziehbar, entwickelt Franke Madjas Motivation trotzdem intelligent, ungewöhnlich lebensnah und emotional überzeugend. Die Stärke dieses Buches liegt in der für Franke ungewöhnlich überzeugenden Charakterisierung vieler seiner Figuren. Selbst unauffälligen Personen gibt er individuelle Züge und ermöglicht es so seinen Lesern, viel intensiver dem Geschehen zu folgen. Dabei scheut er sich nicht, anfänglich sympathische positive Figuren anders als erwartet handeln zu lassen und ihre negativen Seiten deutlich aufzuzeigen.

Herbert W. Frankes Thriller spielt in der nahen Zukunft eines regulierten, aber nicht friedlichen Nahen Osten. In einer Zeit, in der Öl inzwischen kein Rohstoff mehr ist, sondern der Vergangenheit und einigen wenigen chemischen Konzernen gehört. Diese ungemein vielfältige Facette spricht Franke nur oberflächlich und nebensächlich an. Dabei könnten die Auswirkungen revolutionär sein und die Welt außerhalb von Cyber City ein faszinierendes neues Gesicht haben. Die arabische Welt hätte ihre schärfste Waffe verloren und die alten Kontinente mit neuen Energien und Technologien aus ihrer Sicht alles wieder ins richtige Lot gerückt haben. Viele dieser Komponente hätten dem ansonsten kompakten Roman eine tiefer gehende innere Dynamik geben können. Der neue Engpaß ist Wasser und die Macht, die die wenigen reinen Quellen den Konzernen geben. Die wirklich relevante Frage stellt Franke nicht: welchen Preis hat das kühle Naß wirklich und warum gehen die Nationen nicht den Weg, Entsalzungsanlagen zu bauen und zu recyclen. In einer Welt fast ohne Öl, die sich immer noch dreht, ist es eine Kleinigkeit, aus Seewasser zumindest trinkbares Wasser, wenn nicht Trinkwasser zu schöpfen.

Mit Madja inszeniert Franke eine sympathische, facettenreiche junge Frau auf der Sache nach eigenen Identität und dem Verlangen, einen Schlußstrich unter ihre Vergangenheit – das Schicksal ihres Vaters – zu ziehen. Dabei bleibt sie bodenständig und ist sich der eigenen Probleme bewußt. Sie schwankt zwischen den scheinbaren Geschenken Khalids und ihrem eigenen Drang, die verschiedenen Fragen beantwortet zu bekommen. Sie wächst als Persönlichkeit, in dem Moment, in dem aus ihrem Urlaub ein Horrortrip wird und die Anforderungen über ihren Kopf wachsen. Mit dieser abgerundeten Protagonistin kann Franke viele Schwächen des Buches überspielen und den Leser in die dramatischen Ereignisse einbeziehen. Er verfolgt Madjas Suche fast ausschließlich aus ihrer Perspektive. Bewußt verzichtet Franke auf eine vielschichtigere Handlung und führt nur die Ebene mit den im Erdreich vergrabenen Terroristen und ihre Rückeroberungspläne weiter.

Trotz einiger Schwächen entpuppt sich »Cyber City Süd« als interessante und realitätsnahe Spekulation mit einer stringenten Handlung und einer sehr überzeugenden Protagonistin. Im Vergleich zu einigen Romanen Frankes, die er in den achtziger Jahren geschrieben hat, etabliert er sich mehr als klassischer Erzähler mit sozialkritischen Komponenten und der Leser hat den Eindruck, als wenn ihm dieser Roman auch als Autor besser von der Hand gegangen sei, als der Vorgänger »Sphinx_2«.