James Graham Ballard – Die Stimmen der Zeit

Die Stimmen der Zeit

Originaltitel: »The Complete Short Stories«, Teil 1
Übersetzung: Wolfgang Eisermann u. a.
Heyne Science Fiction 2007
ISBN 3-43-2229-9, 987 Seiten, 10,95 €

J. G. Ballard, Jahrgang 1930, ist nach wie vor einer der wichtigsten Autoren der englischsprachigen Phantastik, wie u.a. auch sein jüngster Roman, »Kingdom Come« beweist. Er ist auch einer der wenigen Literaten, die es schafften, einen eigenen Stilbegriff – »ballardesk« – zu prägen. Was man unter »ballardesk« verstehen könnte, zeigt nun auf eindrückliche Weise der erste Band der gesammelten Erzählungen, »Die Stimmen der Zeit«, der Ballards zwischen ca. 1950 und 1970 erschienene Kurzgeschichten präsentiert.

Viele, nicht alle der frühen Erzählungen zeichnen eine nahe Zukunft oder auch nur eine verfremdete Gegenwart, in der Menschen ein Stückchen Freiheit und Individualität in einer Gesellschaft suchen, die – sei es durch unkontrollierten Fortschritt, sei es durch schleichenden Verfall sozialer Normen – vollkommen unmenschlich geworden ist. So gilt z. B. in der »Konzentrationsstadt« schon allein der Traum von Freiheit als Anzeichen für Wahnsinn. Ballards Szenarien steuern unaufhaltsam auf Punkt zu, an dem sich die technologischen und gesellschaftlichen Errungenschaften der Moderne als selbstzerstörerisch erweisen. Selbst in den fast paradiesischen Zuständen, die in den »Vermillion-Sands-Stories« geschildert werden, finden sich Anzeichen von drohendem Untergang oder zumindest auswegsloser Stagnation. Dieser Geschichten-Zyklus über eine fremdartige Künstlerkolonie hebt sich jedoch durch eine Vielzahl poetischer und surrealer Ideen von den anderen, meist sehr pessimistischen Texten ab: hier findet man singende Blumen und Kunstwerke, die aus Wolken geschnitzt sind. Mein persönlicher Favorit ist allerdings »Der Garten der Zeit«: ein Liebespaar in einer idyllischen Villa kann durch das Pflücken einer Rose ihre Gegenwart vom Lauf der Zeit trennen; doch sobald die Rose welkt, kehrt die Normalzeit zurück und ein bewaffneter Pöbel nähert sich der Villa – bis die Liebenden eine neue, die letzte Rose pflücken.

Um zu erkennen, wie deutlich Ballard schon vor 40 bis 50 Jahren grundlegende Probleme der westlichen Technologiegesellschaft des 20. und 21. Jahrhunderts gesehen hat, genügt ein kurzer Blick in die Tageszeitung: Kinder, die Gewalttaten mit ihren Fotohandys aufnehmen und die Bilder auf dem Schulhof tauschen – diese Szene könnte durchaus aus einer alten Ballard-Erzählung stammen. Die Alltäglichkeit solcher grotesker Fälle und die erschreckende Gleichgültigkeit der Beteiligten entspricht zumindest Ballards bedrückenden, aber hellsichtigen Pessimismus: ein zivilisatorischer, moralischer und ethischer Fortschritt, der den technologischen und wissenschaftlichen Fortschritt begleiten müsste, ist weiterhin nicht in Sicht. Ballard bleibt also aktuell, unsere Gegenwart bleibt »ballardesk« – leider.

Fazit: Eine interessante Wiederentdeckung für ältere Leser, für jüngere Leser eine notwendige Herausforderung.