Michael Marrak – Imagon

Imagon

Festa-Verlag, Hardcover 2610
Titelbild von Michael Marrak
September 2002, 21.- Euro, 406 Seiten

Michael Marrak erblickte am 5. November 1965 in Weikersheim das Licht der Welt. Nach der üblichen Schulausbildung begann er eine Ausbildung als Großhandelskaufmann und war von 1988 bis 1991 am Berufskolleg für angewandte Grafik. Inzwischen lebt und arbeitet er in der niedersächsischen Stadt Hildesheim.

Zur phantastischen Literatur kam er – wie er in einem Interview mit Florian Breitsameter erläuterte – wie folgt: »Der Grund muß irgendwo in meiner frühsten Kindheit Ende der sechziger Jahre liegen. Damals liefen Fernsehserien wie »Raumpatrouille Orion« und »Twilight Zone«, und ich stand abends immer im Türspalt und schaute heimlich zu. Meine Eltern ließen mich nicht fernsehen, wenn dieses Zeug lief. Und da Verbotenes bekanntlich den größten Reiz besitzt… Anfang der Siebziger folgte »Star Trek«. Davon sind die meisten Serien so – na ja, ich möchte jetzt keinen Trekkie beleidigen und sage mal: quietschig – daß man sie auch einem Kind hatte zumuten können. In den Siebzigern stieß ich dann auf die Schneider-Bücher von Rolf Ulrici, »Raumschiff Monitor«, »Giganto« (irgend etwas kam danach noch…) und mit »Star Wars« und »Exorzist« begann in den Kinos Ende der Siebziger der SF- und Horror-Boom. In dem kleinen Städtchen, in dem ich auf die Mittelschule ging, schiß man auf Altersfreigaben, war froh, daß sich jemand in den Schuppen verirrte. Eine Stapel gehacktes Holz, ein Baumstumpf und eine Axt in der rechten Ecke neben der Leinwand! Keine Dekoration, sondern die Brennholzecke des Kinobesitzers. DAS war Kino! Leider wurde es 1985 abgerissen. Wir waren eine Clique von vier Leuten und schauten uns zwischen 1977 und 1983 die kaputtesten und genialsten Horror- und SF-Filme aller Zeiten in dem Laden an (z. B. »Hotel zur Hölle«… brüll!). Die Realität war langweilig. Ich war schwach. Der Rest ergab sich.«

Auf seiner Homepage sagt er zum Beginn seiner schriftstellerischen Entwicklung: »Meine erste Geschichte schrieb ich 1980, zwei Wochen nachdem ich als Fahrradfahrer von einem Citreon über den Haufen gefahren worden war. Titel dieses literarischen Unfalls: »Charterflug zur Hölle«. Ich besitze diese Story noch. Hin und wieder fällt sie mir beim Stöbern in die Hände. Handkoloriertes Aquarell-Titelbild, 70.000 Tippfehler und natürlich eine Vorschau auf die kommenden zehn Romane als Abspann.«

Seit 1990 publiziert Michael Marrak Geschichten, seine Werke aus den Jahren zwischen 1983 und 1986 erschienen in der Sammlung »Grabwelt«. In verschiedenen Fanzines erschienen seine Grafiken. Auf die Frage, ob er zwischen dem Zeichnen und Schreiben phasenweise unterschied, antwortet er in dem oben erwähnten Interview wie folgt: »Dazu müßte ich einen Anfangpunkt setzen. Das Zeichnen und Schreiben begann 1980 parallel. Die ersten Stories bis 1983 waren recht infantile Produkte und sind nicht der Rede wert, beim Betrachten der ersten Zeichnungen muß ich heutzutage schmunzeln. Das Zeichnen, oder sagen wir, die bildhafte Kunst entwickelte sich schneller, war Mitte der Achtziger bereits recht ansehnlich. Die Stories in Grabwelt sind gegenüber den Urwerken sehr überarbeitet, wobei ich es vermieden habe, den naiven Ton der Anfangszeit zu sehr zu retuschieren. Man sollte merken, daß es Anfangswerke sind. Keine der Geschichten in Grabwelt ist so, wie sie damals zu Papier gebracht wurde. Das hätte man nicht veröffentlichen können. Zwischen 1986 und 1989 habe ich nichts geschrieben. In dieser Zeit besser gesagt zwischen 1987 und 1993 entstanden sehr viele Bilder und Zeichnungen. Farbcover für Magazine, Plattencover, dazu jede Menge Bilder, die ich bisher nicht veröffentlicht habe, weil ich sie als private Werke ansehe. Zwischen 1990 und 1995 entstanden neben einer Anzahl von Bildern wieder diverse Texte, allerdings war ich mir über die Genreausrichtung unschlüssig, experimentierte in dieser Zeit mehr, anstatt konventionelle Sachen zu schreiben. Es entstanden viele Grotesken, Theaterstücke, Lyrik und Dinge, für die ich gerade keine Schublade finde. Experimente eben. Zwei, drei normale Sachen waren natürlich auch dabei. Aber ich hatte kein Ziel, alles war just for fun. Nach 1993 entstanden nur noch Tuschezeichnungen. Billig reproduziertes Material, um es mal so zu nennen. Kopiervorlagen. das ging bis 1997, dann hatte ich die Schnauze voll. Jeder wollte nur noch eine Marrak-Illustration, egal ob hingerotzt oder nicht. Ich dachte mir: wenn sie mir sogar hingekrakelten Müll mit Handkuß abnehmen, sollte ich mich besser eine anspruchsvolleren Sache zuwenden. Das heißt jedoch nicht, daß ich überhaupt nicht mehr zeichne. Im Gegenteil: Allerdings arbeite ich für mich, für meine Zimmerwände und so soll es für absehbare Zeit auch bleiben.«

Seitdem publizierte er Stories in in- und ausländischen Magazinen und Storysammlungen, dazu in seinem eigenen Story und Art Magazin »ZIMMERIT«. Im Jahre 1997 erschien sein erster Roman »Die Stadt der Klage« als moderne Version von Dantes Hölle. Seit 1998 ist Michael Marrak Mitherausgeber der Schriftenreihe »MALDOROR«. Für die Erzählung »Die Stille nach dem Ton« aus der gleichnamigen Sammlung, erhielt er den »Deutschen Science Fiction Preis« des Jahres 1998. Mit »Lord Gamma« erschien im Jahr 2000 sein nächster Roman, zunächst im Shayol-Verlag und dann später 2002 als Taschenbuch bei Bastei-Lübbe. Der Roman wurde mit dem Kurd Laßwitz-Preis ausgezeichnet.

»Imagon« erschien zunächst als Hardcover im Festa-Verlag, wird aber 2004 ebenfalls als Bastei-Taschenbuch erscheinen und erhielt den Kurd Laßwitz-Preis als bester Roman des Jahres 2002. Über die Entstehungsgeschichte dieses Romans sagte Michael Marrak in einem Interview mit »phantastisch!« folgendes:

»Inspiriert von Lovecrafts Kurzroman »Berge des Wahnsinns« entstanden die ersten Textpassagen vom Einschlag eines Meteoriten auf Grönland und die damit verbundene Entdeckung einer uralten Tempelanlage vor mehr als 15 Jahren, und die erste – fürchterlich schlechte – Version erschien 1990 unter dem Titel »Die Augen von Aasac« in einer Hardcover-Anthologie namens »Erzählungen der phantastischen Literatur«. Es war zugleich meine erste veröffentlichte Story. 1994 erschien eine leicht veränderte, aber immer noch nicht viel bessere Version (diesmal mit SF-Hintergrund) unter dem Titel »Schweigender Gezeiten Geister« in »Andromeda # 134«. Ein paar Jahre später nahm ich mir die Geschichte für meine Novellensammlung »Die Stille nach dem Ton« noch mal zur Brust und schrieb sie völlig um. Unter dem Titel »Der Eistempel« erschien sie 1998 in einer um das Dreifache verlängerten Version, und damals war ich recht zufrieden mit dem Ergebnis. Dennoch ertappte ich mich immer wieder dabei, wie ich Fernsehdokumentationen zu verfolgen und Internetberichte zu lesen und mir dabei eifrig Notizen über Grönland, die Inuit und die Arktis zu machen, mit der vagen Absicht, den »Eistempel« irgendwann zu vervollkommnen. Irgendwie war die Geschichte einfach noch nicht rund und das, was ich eigentlich erzählen wollte, nur zu einem Bruchteil erzählt. Just als »Der Eistempel« veröffentlicht wurde, gab es weltweit ziemlich viel Wirbel um den vermeintlichen Einschlag eines großen Meteoriten, der über Ostgrönland die Nacht für Minuten zum Tag gemacht haben soll – ein Ereignis, das so auch in meiner Geschichte beschrieben wird. Zudem entpuppte sich einer der Leser, die damals die Novellensammlung gekauft haben, als studierter Geologe und Paläontologe, und der schrieb mir bald darauf eine ziemlich lange E-Mail, in der er mich darauf hinwies, was für ein Kokolores im »Eistempel« zum Teil noch steht. Mangels Hintergrundwissen hatte ich Fehler gemacht, wo es nur ging; Geologie, Physik, Wissenschaftlichkeit, Landesgeschichte, Logik … Liebe Güte… Als dann im Juli 2000 Frank Festa bei mir anrief und mich bat, den »Eistempel« – unter neuem Titel – zu einem Roman auszubauen, schloß sich der Kreis. Das Produkt dieser literarischen Evolution heißt »Imagon«.«

Die Hauptperson in »Imagon« ist der Ich-Erzähler und Geophysiker Poul Silis. Bevor die eigentliche Story einsetzt, erfahren wir in Rückblenden von seiner Begegnung mit einer jungen Frau namens Nauna, die in Kaliningrad lebt. Sie interessiert sich für seine Arbeiten und nach einigen Telefonaten erfährt Silis, das sie schwer erkrankt ist. Er beschließt, sie auf dem Sterbebett zu besuchen. Dort hinterläßt sie ihm neben einem Glücksbringer auch zwei Briefe, von denen er einen erst später öffnen darf. Sie prophezeit ihm, daß sie sich eines Tages noch einmal in Grönland treffen werden, eine Region, die Silis eigentlich überhaupt nicht schätzt.

Zu Beginn des eigentlichen Romans erfahren wir denn auch von Silis‘ Abneigung gegenüber Schnee. Selten findet der Leser eine so detaillierte Abhandlung über die Kälte, das Eis und den Schnee. Vielleicht ein unbewußter Bezug auf »Fräulein Smilas Gespür für den Schnee«, dessen Grundplot (in Grönland geschieht etwas ungeheuerliches, das von verschiedenen Organisationen gedeckt wird) durchaus Ähnlichkeiten mit dem von »Imagon« hat.

Kurze Zeit später erfährt Poul Silis, daß anscheinend unbemerkt von der Öffentlichkeit ein großer Meteorit in Grönland eingeschlagen sein soll. Doch die Satellitenbilder verraten keine Einzelheiten, und das Universitätsinstitut schickt ausgerechnet ihn dorthin, um die entsprechenden Messungen vorzunehmen. Schon zu Beginn der Reise kommt das alles Silis sehr spanisch vor, denn es gab keine tektonischen Beben oder Springfluten. In Grönland angekommen nach einer beschwerlichen Reise kann er selbst mit seinen hervorragenden technischen Möglichkeiten keine Spur eines Meteoriten entdecken und am Grunde eines sechs Kilometer breiten Kraters finden sich plötzlich die Reste einer uralten Tempelanlage im Eis wieder, die vorsichtig ausgegraben wird. Einige Mitglieder der bisherigen Forschungsgruppe scheinen über Nacht abgereist, die Eskimos weihen seine Ausrüstung, nähere Informationen erhält er nur spärlich und bei einer Untersuchung fallen kryptische Andeutungen, »es« nicht zu wecken. In den Nächten suchen Alpträume Silis heim, von uralten, außerirdischen Wesen, die noch vor den Menschen die Erde beherrscht haben und sich Silis als Sendboten auszusuchen scheinen. Auch die Prophezeiungen Naunas gehen auf eine überraschende Weise in Erfüllung. Aus den verschiedenen »Zufällen »entsteht eine Situation, die eher John Carpenters »Das Ding« ähnelt, als einem normalen Forschungstrip. Je mehr sich Silis auch mit der traurigen Geschichte der Eskimos befaßt, um so deutlicher werden ihm Parallelen zur Gegenwart, zur sich zuspitzenden Situation.

Als er schließlich Naunas zweiten Brief liest und er mehr über ihr früheres Schicksal in Grönland erfährt, schließt sich für ihn der Kreis und er kann erkennen, warum ausgerechnet der die Kälte hassende Silis nach Grönland fahren mußte, um den Kreis zu schließen.

Schon die Publikation in »H.P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens« ist ein Verweis auf eine Beziehung zum Meister des Grauens. Die Novelle basiert zum einem auf der früheren Arbeit »Der Eistempel«, erschienen in Marraks Erzählband »Die Stille nach dem Ton«, zum anderen ist sie aber auch eine Anlehnung an Lovecrafts Novelle »Mountains of Madness« (dt. »Berge des Wahnsinns« aus dem Suhrkamp-Verlag). Marrak verbindet stimmungsvoll den Cthulhu-Mythos mit der Historie und der Geschichte der Eskimos. Dazu der Autor: »»Imagon« ist wie vielfach angekündigt kein Cthulhu-Roman. Er spielt zwar in Lovecrafts »Elder Gods«-Universum, aber Cthulhu wird allenfalls am Rande erwähnt. Die Geschichte handelt von ein paar ganz anderen… hm… Leuten? Grossen Alten Alten? Monstren?« Im Laufe der Aktionen läßt Marrak sein anrecherchiertes Fachwissen gezielt, konsequent, aber unauffällig in die Handlung einfließen.

Poul Silis – der dänische Hauptprotagonist – trägt Züge von Max Frischs »Homo Faber« in sich, ein bedingungsloser, exakter Wissenschaftler, aber in erster Linie ist er eine umgedrehte Fassung der hochintelligenten Smila aus Peter Hoegs einfühlsamen, spannenden Roman. Genau wie Smila nur in Grönland, in echtem Schnee funktionieren kann und sich in Kopenhagen unwohl fühlt, möchte Silis nichts von der weißen Pracht wissen und ignoriert lange Zeit diesen Teil der Welt. Doch innerhalb sehr kurzer Zeit wird er zweimal damit konfrontiert. Er besucht die sterbenskranke Nauna in Kalingrad und dann folgt der Auftrag, das seltsame Phänomen in Grönland zu untersuchen. Die Etablierung der beiden Ausgangszenarien (die Begegnung mit Nauna und der Flug nach Grönland, die schließlich ineinanderfließen) gelingt Marrak ausgezeichnet. Er hat sich sogar mit den deutschen Antarktisforschern unterhalten, um die Infrastruktur einer Polarstation überzeugend und glaubwürdig zu schildern. Dazu passend vermittelt er seinen Lesern ein Grundwissen in Geologie, Paläontologie, der Gletscher und Eiskunde, sowie der Historie der Inuit, der Ureinwohner Grönlands und ihrer schicksalhaften Begegnungen mit dem weißen Mann. Die Parallelen zu den Indianern in Nordamerika sind frappierend, auch wenn Peter Hoeg die Ausrottung und Reduzierung der Inuit auf eine Touristenattraktion noch eindringlicher und brutaler schildert. Man muß anmerken, daß diese Art der Hintergrundbeleuchtung aber zu Lasten der Spannung geht. Lovecraft braucht nur kurze, knappe Andeutungen und erzeugt ein Gefühl des Unbehaglichen. Das stellt sich bei Marrak auch immer wieder abschnittweise ein, doch die umfassende Erläuterung des Hintergrundes zerstört diesen Bogen immer wieder. Hier wäre weniger mehr gewesen, wenn das Buch als reinrassiger Horrorroman betrachten werden soll. Und so hat es Marrak auch charakterisiert. Konsequent führt er aber seine Protagonisten aus der Lovecraftschen Vergangenheit in unsere technologisch so fortgeschrittene, aber im Grunde leere Gegenwart. Der Aufbau des Romans ist zu diesem Zeitpunkt sehr gelungen.

Erst mit der Zeitreise durchbricht Marrak die verzweifelte Atmosphäre von Dunkelheit, Kälte, Verzweifelung und schließlich Todesgefahr. Genauso lebendig diese Szenen auch wirken, so klischeehaft, breit und konträr wirken die in der tiefsten Vergangenheit spielenden Szenen. Sie sollen aus dem kühlen Wissenschaftler ein gläubiges Opfer machen, dazu bräuchte man diesen Handlungsabschnitt nicht. Stilistisch überzeugen diese Szenen nicht, vielleicht war es Absicht, vielleicht nur Zufall, daß sie wie eine seichte Unterhaltung aus der Hollywoodfabrik wirken. Natürlich schließt sich der Kreis, mit dem Nauna und Silis sicher näher kommen und das unheimliche Wesen in die Gegenwart entlassen wird. Diese Szene soll eindrucksvoll, bedrohend wirken, kommt aber dem Uraltklischee der Alien-Filme näher als geplant und zerstört im Grunde die bedrohliche Atmosphäre. Was Frau geboren hat, kann der Mensch auch töten. Marrak sucht hier händeringend nach einer für den Leser goutierbaren Lösung, während das Original von Lovecraft seine Faszination aus den fehlenden Erklärungen und offenen Enden zog.

Eine weitere Problematik des Romans liegt in der Figur des Ich-Erzählers Poul Silis begründet. Er ist anfänglich zynisch, sarkastisch, wie viele Wissenschaftler Ich-bezogen, aber im Laufe der Handlung gewinnt er an Farbe und Sympathie, kann aber nur phasenweise die Leser auf seine Seite bringen. Zu selten erfährt der Leser, was diesen Menschen bewegt. Dazu nimmt er auch sein »kosmisches« Schicksal sehr gelassen hin und denkt sehr wenig über die Konsequenzen nach. Bis auf die Begegnung mit Nauna ist Poul ein oberflächlicher, gefühlsloser Mensch, in den Marrak auch im Laufe des Buches nicht eindringen kann und schließlich bleibt der Leser dieser tragenden oder tragischen Gestalt gegenüber gleichgültig und trotz der epochalen Veränderung , die die Menschheit und die Erde widerfährt, interessiert es den Leser nicht. Es geht auch kein Reifeprozeß in dem Charakter selbst vor, angesichts der unglaublichen Ereignisse, die auf ihn eindringen. Für eine auf eine Figur konzentrierte Handlung mit dem klassischen Ich-Erzähler verliert er in der Gesamtbetrachtung sehr viel und darin liegt auch eine weitere Schwäche des Romans. Das Silis überlebt, ist durch die Erzählerebene herausgestellt und nimmt einigen lebensbedrohlichen Szenen die Grundlage. Trotzdem hätte sie Marrak ergreifender und spannender darbieten können. Wie bei einem großartigen Gemälde betrachtet man die Zeichnung, die Farben und den Aufbau, aber in ein Kunstwerk wird man hineingezogen und nimmt neben der technischen Raffinesse auch einen inneren Eindruck mit nach Hause. Das ist hier ab der Hälfte des Romans nicht mehr der Fall.

Außer Poul Silis ist keine Figur sonderlich sorgfältig gezeichnet. Sie bleiben einem nicht im Gedächtnis und damit rührt sie auch ihr Schicksal nicht.

Was die »Action« betrifft, ist das Buch gut aufgestellt. Bis auf die unnötige Zeitreise gewinnt »Imagon« in den Konfrontationsszenen unglaublich durch Marraks erzählerische Dichte, seine Fähigkeit, »unbeschreibliche« Elemente plastisch darzustellen. Hier geht es konsequent einen Schritt weiter. Lovecraft beließ es beim Unbeschreiblichen, Marrak überzeugt mit seinen unglaublich alten, machtvollen Wesen. Der Showdown ist gewalttätig, brutal, eine Eruption aufgestauter kompromißloser Emotionen. Den größten Teil der Gewalt erfährt der Leser nur indirekt, nur die Auswirkungen werden beschrieben, da Silis nicht zugegen war.

»Imagon« bleibt letztlich ein zwiespältiges Buch. Michael Marrak hat die schriftstellerische Klasse, einen herausragenden Roman zu schreiben, er hat die Fähigkeit, behutsam eine einfallsreiche Hommage an Lovecraft zu entwerfen, und er verfügt über genügend Phantasie, um den Leser zu fesseln und ist selbstkritisch genug, sein Werk in den richtigen Kontext zu setzen.

Was »Imagon« allerdings fehlt, ist das Herz. Er wollte eine große Geschichte erzählen, hat sein Werkzeug gespitzt, die Nachschlagebücher gewälzt, ordentlich recherchiert und dann einen Roman geschrieben, der im Grunde wie ein Stilleben ist. Wunderschön anzusehen (auch die optische Gestaltung des Hardcovers ist sehr gelungen), aber im Grunde kalt und unnahbar. Oberflächliche Betrachter könnten Marrak Absicht unterstellen, daß er genauso agieren und schreiben wollte wie Grönland im Herzen ist: Lebensfeindlich, bedrohlich und einfach nur schneeweiß. Aber während Fräulein Smila ihre Heimat liebt und Peter Hoeg diese Faszination seinen Lesern zu Füßen legt, kratzt Michael Marrak nur an der Oberfläche. »Imagon« weist einige Längen auf, dazu kommen erzählerische Schwächen und es bleibt das Gefühl, das der Autor zuviel wollte und schließlich unbewußt und unbemerkt an seinen Vorgaben ein bißchen gescheitert ist. Vielleicht wird Marrak aber mit diesem Buch wieder auf ein normales, angemessenes Niveau zurückgeholt und wird in erster Linie mit seinen folgenden Romanen wieder ein guter Erzähler. Gelungene Ansätze finden sich in dem Roman genug und wer eine deutsche Hommage an Lovecraft lesen möchte, eine Variation seiner Mythen, der wird sehr viel schlechtere Texte als diesen Roman finden, aber mit den anerkannten Klassikern wie Clark Ashton Smith oder August Derlath auch bessere. Aber lassen wir den Autoren selbst zum Abschluß noch einmal zur Feder greifen: »Zudem ist »Imagon« kein klassischer, sondern ein sehr moderner Lovecraft’scher Roman. Eine Geschichte, die in einem 400 Seiten dickem Buch erzählt wird, in wenigen Sätzen wiederzugeben, ist von vorneherein zum Scheitern verurteilt.« Man kann darauf antworten, daß die Geschichte im Grunde zu klein ist für 400 Seiten und nur die Verzierung den Leser auf ansprechendem Niveau bei der Stange hält. Vielleicht gelingt es ihm in seinem nächsten Roman besser, das Gleichgewicht zwischen Erzählkunst und Handlung zu behalten.