Ray Bradbury – »Der Katzenpyjama«

Der Katzen-Pyjama

Edition Phantasia
Paperback
Titelbild von Lillian Mousli
Übersetzt von ?
ISBN 3-93789709-7
185 Seiten, 13,90 €

Insgesamt 20 unveröffentlichte Geschichten von Ray Bradbury aus den letzten fast sechzig Jahren versammelt dieses Büchlein. Nur zwei der Kurzgeschichten erschienen schon zuvor in Detektivmagazinen. Viele der Stories waren – laut Bradburys kurzem, aber einfühlsamen Vorwort – von ihm einfach vergessen worden. Das Stöbern in den alten Schätzen hat eine Reihe von auch heute noch interessanten Erzählungen ans Tageslicht gefördert. Bradbury hat auf die Bearbeitung verzichtet und präsentiert diese in ihrer ursprünglichen und doch oft zeitlosen Form. Die neuen Geschichten, die nach dem Tod seiner Frau geschrieben und konzipiert wurden, kehren dagegen aus seinem Nimmerland in unsere verzerrte Realität zurück.

Dabei erweist er sich weiterhin als ein oft ironischer Beobachter. Im Gegensatz zu vielen anderen Kurzgeschichtenautoren fehlt ihm der inzwischen Mode gewordene Zynismus. Auch wenn er zwischen den Zeilen deutliche Kritik äußert, ist sie durchdacht und öffnet den Lesern die Augen ohne ihnen vor den Kopf zu schlagen. Das macht diese Geschichten und ihren unvergleichlichen Erzähler zu angenehmen Gästen in unseren
Häusern.

Dabei greift Bradbury immer wieder Themen auf, die ihm am Herzen liegen: z.B. die Diskriminierung von Minderheiten, den Farbigen und den Indianern. Mit scheinbar ironischer Leichtigkeit beginnt er seine Geschichten mit einem von vorneherein absurden Gedanken und zwingt im Verlaufe der Geschichten seine Leser zum Nachdenken. »Chrysalis« hat als Ausgangspunkt die Frage, ob Farbige auch einen Sonnenbrand erleiden können und in »Heil, Häuptling« verspielen dreizehn betrunkene Senatoren die USA an den Besitzer eines Casinos nahe der kanadischen Grenze: einen Indianer.

Zwei Bilder bleiben dem Betrachter in der Erinnerung: der Hot Dog Verkäufer, der lieber fast sonnenverbrannte Weiße bedient als hellhäutige Schwarze und die Bemerkung des Indianergottes, der die Rückzahlung der 26,90 US-Dollar nur in kleinen Scheinen vom Präsidenten der verzockten USA akzeptiert. 26,90 Dollar war natürlich der Kaufpreis von Manhattan Island, den die Indianer erhalten hatten. Aber auch den neuen Strömungen in einer medienwirksam hochstilisierten Welt moderner Künste kann Bradbury in der überzeichneten Geschichte »Ole, Orozco! Siqueeiros, si!« neue Facetten abgewinnen. Kunst ist nicht mehr, was gefällt, sondern was man aus den vorhandenen Bildern machen kann. Aber daß man die grundlegenden Bilder unter Umständen zerstören muß, um sie in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu rücken, ist die dramatische Übertreibung eines absurden, aber vorherrschenden Trends einer sich selbst inszenierenden Kunstszene.

Wie in »Chrysalis« ist »Die Verwandlung« eine bitterböse Abrechnung mit dem Rassismus nach dem biblischen Prinzip »Auge um Auge, Zahn um Zahn«. Suchten die Charaktere in der ersten Geschichte nach einer logischen Erklärung für den Haß gegen eine andere Hautfarbe, so geht diese Story einen Schritt weiter. Einige skrupellose, weiße Männer nutzen ihre potentielle Macht insbesondere farbigen, jungen Frauen gegenüber zum eignen Vorteil. Während die ach so anständigen Mitbürger wegschauen, reichen andere dem Täter eine besondere Art von Spiegel. Es ist bezeichnend für diese Geschichte, daß die Zirkusleute der Gerechtigkeit zu Hilfe eilen. Zirkusleute, die oft auf der gleichen Stufe wie die Farbigen stehen oder gestanden haben. Der die Handlung tragende Protagonist trägt Züge, die sich kurze Zeit später in Bradburys Episodenroman »Der Tätowierte« wieder finden sollten.

Klassische Themen wie Zeitreise sind bei Bradbury oft nur Versatzstücke. Nur durch eine kleine Bemerkung kann in »Irgendwann vor der Dämmerung« der Ich-Erzähler den wahren Charakter seiner Mitbewohner erkennen. Der Autor läßt aber seine Leser ihre eigenen Schlüsse ziehen. Er weist den Weg, zeigt aber keine Lösungen auf. Das macht auf der einen Seite vieler seiner Geschichten unheimlich reizvoll, aber auf der anderen Seite geht er den literarisch einfachen Weg und windet sich so aus der direkten Konfrontation mit der Erwartungshaltung seiner Leser. In eine andere Richtung geht »Der John Wilkes Booth/Warner Brothers/MGM/NBC-Begräbniszug«, ist sie doch weniger Geschichte als kraftvolles Bild und Hommage an Bradburys wahrscheinlich größte Schöpfung: den Zug, der in »Das Böse kommt auf leisen Sohlen« den unheimlichen Zirkus in die kleine Stadt gebracht hat. Trotzdem verbindet der Autor mit unheimlicher Leichtigkeit das maßlose Verhalten der damaligen Diktatoren der Filmstudios mit der tragischen Geschichte eines naiven Hinterhoferfinders.

Obwohl mit einem schrulligen Titel – »Der Mafia-Betonmischer« – ausgestattet, ist diese aus dem Jahr 2003 stammende Vignette eine weitere Variante des Themas »Zeitreise und Änderung des Zeitstroms«. Mit einem verbesserten Betonmischer möchte Burnham Wood in die Vergangenheit Hollywoods eindringen, um F.Scott Fitzgerald Zeit zu schenken und ihn von seinen billigen Drehbüchern wegzulocken. Er soll seinen großen Roman »Der letzte Tycoon« beenden. Unglaublich konzentriert vermischt Bradbury Hollywoods Geschichte mit dieser Fiktion. Der Leser taucht in die Wunschwelt ein und fragt sich unvermittelt, welchem Autoren, Regisseur oder Schauspieler er ein Alterswerk geschenkt hätte. Mit seinem feinen Gespür und Erzähltalent wirkt der Autor wie ein Dinosaurier dieser legendären, aber unvergessenen Ära. In letzter Zeit setzt er sich immer mehr mit seiner Vision Hollywoods auseinander – siehe »From the dust returned« – und malt ein interessantes Portrait aus der verzerrten Perspektive hinter den Kulissen.

»Die Insel« ist eine unheimliche, atmosphärisch dichte Geschichte in der Tradition Shirley Jacksons, mit den für die vierziger  und fünfziger Jahre modernen Anklängen. Beim Auftreten der Polizei wird die Illusion zerstört und weicht der bitteren Realität.

Durch die Einführung Bradburys und seine  Erinnerungen wird aus der melancholischen Geschichte »Ganz natürlich« eine persönliche Anekdote. Eine alte farbige Frau wartet in ihrem Haus auf die Ankunft ihres inzwischen berühmt gewordenen Ziehsohns, dessen Zug Mitte der vierziger Jahre eine halbe Stunde Aufenthalt im Ort hat. Mit spitzer Feder formuliert Bradbury Alltägliches. Wie oft haben wir für andere Menschen Ausreden erfunden, um unsere eigene Verletzlichkeit zu überspielen? Am Ende dieser kurzen Geschichte überträgt sich das Gefühl der innerlichen Leere auf den Leser und hält ihn lange gefangen. In weiteren Stories setzt sich Bradbury autobiographisch gefärbt mit Themen wie Liebe und daraus folgender Ehe auseinander, und zeigt den schmalen Grad auf, der zwischen Glück und Tragik liegen kann (»Das Haus«).

Den Abschluß dieses Zyklus‘ in »Der Katzenpyjama« bildet die Erinnerung »I get the Blues when it rains«, der Bericht eines wunderschönen Schriftstellerabends und die Beschreibung eines der magischen Momente, in denen die Zeit stillzustehen scheint und die Teilnehmer aus ihren dicken Schalen ausbrechen, um zu Leben.

»Ein vorsichtiger Mann stirbt« ist eine morbide »Film Noir«-Geschichte, deren Auftakt Züge des späteren Klassikers »Geh nicht zu Fuß durch stille Straßen« vorwegnimmt. In den vierziger Jahren entstanden, mit ihrer unerklärlichen Faszination für die Freiheiten, die sich das organisierte Verbrechen gesucht und genommen hat, beschreibt der Autor das Schicksal eines an der Bluterkrankheit leidenden Autoren, der sich mit dem ultimativen Roman an seiner Exfreundin rächen möchte. Diese ist den schnellen Vergnügungen – Drogen, Sex, Gewalt und Macht – des organisierten Verbrechens und der Hollywoodschickeria verfallen. Um ihre Freunde und sich selbst vor dem auf Tatsachen basierenden Werk zu schützen, sinnt sie auf diabolische Präventivmaßnahmen. Atmosphärisch dicht, dunkel und konsequent bösartig zu Ende durchgeplant, präsentiert sich Bradbury in Hochform. Ein eiskalter Schauer fährt dem Leser über den Rücken. Der Autor treibt seinen Protagonisten in dessen blindem Bestreben, die eigene gekränkte Eitelkeit mit seinem Tatsachenwerk zu befriedigen und gleichzeitig Gerechtigkeit an anderen Menschen zu üben, in eine ausweglose Situation. Dabei wird er nicht als sympathisches Opfer, sondern als genau süchtig wie seine Ex-Freundin beschrieben. Seine Sucht ist die Literatur, das geschriebene und verletzende Wort. Keine phantastische Geschichte, sondern ein Krimi der schwarzen Serie, deswegen aber nicht weniger fesselnd. Der Leser will unbedingt den die Handlung zusammenfassenden Titel erläutert haben, er bekommt nicht mehr, aber auf keinen Fall weniger auf einem mit schwarzem Tuch überdeckten Tablett präsentiert.

Dagegen ist »Die Gespenster« eine der typischen Huldigungen an die unbeschwerte Jugendzeit, in der das Böse – hier angebliche Gespenster – doch so unglaublich anziehend wirkte. Damit entführt er uns in eine Zeit, in der die Technik noch nicht alles in ihrem unheimlichen Griff hatte und in der Abenteuer noch etwas für richtige Mädchen und Jungen waren. Mit wenigen kraftvollen Gesten diese Zeit wieder herauszubeschwören, ist eine der Stärken Ray Bradburys. Auch wenn »Die Gespenster« diese Kraft nur andeutet, erinnert sich der Leser unwillkürlich an eine Reihe anderer Bücher wie z.B. »Halloween« aus seiner Feder.

Die einzige »reine« Science Fiction-Story in diesem Band ist »Eine Frage des Geschmacks«. Ein Raumschiff landet auf einem fremden Planeten, der von riesigen intelligenten Spinnen bewohnt wird. Am Ende scheitert die Kommunikation der beiden »befreundeten« Rassen an den Vorurteilen gegeneinander. Diese kritische Komponente durchzieht die Geschichte als Allegorie auf die ähnlich gelagerte Gegenwart – der Text entstand in den fünfziger Jahren zum ersten Höhepunkt des kalten Krieges in Korea – und geschickt spielt Bradbury mit den vorherrschenden Rollenklischees. Das Ende dagegen ist ein Zeugnis für die Schwierigkeit des Autoren, seinen Text standesgemäß und originell zu beenden. Einen Seitenhieb auf die oft propagierten Rollenbilder kann er sich nicht verkneifen.

»Alle meine Feinde sind tot« aus dem Jahre 2003 ist eine prachtvolle und prächtige Vignette. Nach dem die Zeitung vom Tod seines letzten Feindes berichtet, sackt ein alter Mann innerlich zusammen. Erst der letzte Dienst seines letzten Freundes verhilft ihm zu einer unerwarteten Wiederauferstehung. Kurze, sehr präzise Dialoge, kaum Exposition und ein bitterböser satirischer Abschluß unterstreichen in dieser Geschichte Bradburys meisterliches Geschick, aus alltäglichen Geschichten und ohne nachzudenken hergesagten Floskeln eine unterhaltsame Story zu zimmern.

Mit der Ballade »Der R.B-G.K.C. und G.B.S.-Orient-Express in die Ewigkeit« – dem Epilog dieser Sammlung – würdigt Bradbury eine Reihe von Literaten und stellt sich die Frage, was einen Menschen nach seinem Tod erwartet und was von seinem Werk und Wirken auf Erden übrig bleibt.

Andere Geschichten – die Titel gebende »Der Katzenpyjama« oder »Dreieck« – sind mehr Fingerübungen, einem Impuls folgend niedergeschrieben, aber weder mit der Idee oder Kraft, ein eigenständiges Leben zu führen oder gar ihre Leser zu überraschen. Das ist der Nachteil, wenn unveröffentlichte Geschichten – aus irgendeinem Grund müssen sie damals aus dem Herzen des Autoren in die tiefen Schubladen seines Schreibtisches gefallen sein – nach zwei Generationen das Licht der Welt erblicken. Oft können diese kurzen Texte das Lebensgefühl einer anderen Generation wieder erwecken, meistens sind es zuckersüße Versuche, eine alltägliche Begebenheit in Worte zu fassen.

Viele dieser Texte erinnern an die bitterbösen Kurzgeschichten Roald Dahls. Dabei zeichnet beide Autoren eine genaue Beobachtungsgabe aus. Wie Ray Bradbury in seinem Vorwort schreibt, muß er sich wohl fühlen, um schreiben zu können. Darum ist die Anekdote »Der Komplettist« – die erste Geschichte, die sich nach dem Tod seiner Frau an die literarische Oberfläche gedrängt hat – eine Kombination aus einer wahren persönlichen Begebenheit und der literarischen Übertreibung. Diese kurzen Episoden zeichnen diese gelungene Sammlung aus. Der Leser darf nicht die geschliffenen Meisterwerke seiner Kollektionen »Medizin für Melancholie« oder »Geh nicht zu Fuß durch stille Straßen« erwarten. Viele der unveröffentlichten Texte sind feine Einzelleistungen eines Autoren, der in den vierziger Jahren seine Stimme und Stimmung gesucht hat. Sie stellen Bradburys gesamte Bandbreite – vom pointierten Erzähler bis zum glänzenden Satiriker – dar. Die neuen Erzählungen sind die gereiften Kommentare eines Menschen, der mit seinem Leben zufrieden sein konnte und vor allem auch zufrieden ist. Immer noch auf der Höhe der Zeit verteilt er zum Nachdenken anregende, aber selten bösartige Nadelstiche. Trotz des unglücklichen Titels – »Der Katzenpyjama« ist eine der wenigen rührseligen, fast schon kitschig verklärten Arbeiten dieser Sammlung – und des unpassenden Titelbildes von Lillian Mousli, ist die hier vorliegende Sammlung empfehlenswert. Kenner Bradburys werden den Band schon wegen der bislang unbekannten Geschichten kaufen, dem Rest sei er ans Herz gelegt, um einen der sympathischen in Ehren ergrauten alten Herren einer längst vergangenen Epoche phantastischer Literatur kennen zu lernen. Manchmal ist weniger mehr und manchmal liegt in der Kürze die Würze.