John Shirley – Ein herrliches Chaos

Ein herrliches Chaos

Heyne Verlag, TB 06/4684
Titel der Originalausgabe: »A splendid chaos« (1988)
aus dem Amerikanischen von Walter Brumm
Titelbild von Michael Hasted
München, 1990, 12,80 DM, 366 Seiten

Nach seinen ersten Erfolgen als Science Fiction-Autor mit dem Cyperpunk-Geburtsroman »Stadt geht los« oder dem Horror-Roman »Dracula in Love« bis zu dem sehr brutalen »The Cellars« verfeinerte Shirley seine Bandbreite als Autor ohne seine politische Schärfe und Kritik am herrschenden Gesellschaftssystem zu verlieren.

In dieser Zeit veränderte er auch seine Drogenabhängigkeit. Er wechselte von psychedelischen Drogen zu Narkotika und wurde zunehmend depressiver und selbstkritischer. Er zog aus Amerika nach Paris um, zum einen wegen der Musik (er nahm ein Album mit seiner Band Obsession auf), zum anderen auch, weil der Unterhalt für seine drei Kinder verdient werden mußte. Unter dem Pseudonym D.B.Drumm schrieb er eine Road Warrior Ripoff-Serie (»Traveller«).

Gleichfalls schrieb er in dieser Zeit die ersten beiden Bände der ECLIPSE-Serie (The Song called Youth-Trilogie bestehend aus »ECLIPSE«, »ECLIPSE PENUMBRA« und »ECLIPSE CORONA«), die in überarbeiteter Form jetzt im Hamburger ariadne-Verlag erscheinen.

Für Shirley bedeutete Europa eine Verfestigung seiner politischen Überzeugung. Er sah in Paris die Rückkehr des Faschismus, geführt von einer Weltregierung, gegen die sich immer mächtig werdende Terroristen stellen, die gnadenlos ihre Ideologie durchsetzen wollen. Die einzige Alternative sieht er in einer Art föderalen Weltregierung, die nur wenige Regeln auf- und durchsetzt, unterstützt von globalen freien Medien (Zeitungen, Fernsehen aber insbesondere das Internet) mit der Maßgabe jegliche Beschränkung der menschlichen Rechte zu verhindern. Besonders in der ECLIPSE-Trilogie versuchen die jugendlichen Helden diese Welt zu errichten und sein 1988 mitten in dieser Serie entstandener Roman »A splendid Chaos« sucht das gleiche zu erreichen, aber nur auf einer scheinbar fremden Welt, auf der Außerirdische mit ihren menschlichen Versuchsobjekten spielen.

Stark beeinflußt von Filmemachern wie Nicolas Roeg oder Fellini ist »A splendid Chaos« bis dato sein surrealistischer Versuch, Bilder in den Köpfen der Betrachtern zu schaffen, ohne dem Leser das Denken gänzlich abzunehmen.

Zero und Bowler streifen durch das nächtliche New York City und treffen auf eine rollende Disko, in der sie kein Eintrittsgeld bezahlen müssen, die Getränke umsonst sind und die Musik laut und gut ist. Sie haben mit ihren Freunden eine tolle Zeit, bis sich plötzlich die Eingänge bzw. Ausgänge versiegeln und scheinbar aus der Wand eine fremde Gestalt tritt. Das ist das letzte, an was sich Zero erinnert. Er erwacht auf einem »fernen« Planeten, den die anderen Entführten Menschen »Fool’s Hope« nennen. Auf diesem Planeten leben insgesamt dreißig verschiedene intelligente Rassen. Zero wurde von den geheimnisvollen Meta entführt, die sich ein Vergnügen daraus machen, das Zusammenspiel dieser buntgemischten Gesellschaften zu beobachten. Hauptfeind ist allerdings der Mensch in Person von Harmon Fisk, der machthungrig eine besondere Art des Sozialdarwinismus predigt. Entgegen Fisks Wünschen macht sich eine gemischtrassige Gruppe auf, um eine Station der Meta zu finden, in der sich verschiedene technologische Entwicklungen befinden sollen, die ihren Besitzer einen unendlichen Vorteil im ewigen Kampf um die Macht geben könnten.

Der erste Gedanke ist natürlich, alles schon einmal dagewesen und stammt der Roman wirklich aus dem Jahr 1988 und nicht etwa aus dem Jahr 1938? Es spricht für Shirley, das er aus dieser alten Prämisse einen unterhaltsamen, zum Teil sehr spannenden, aber immer politisch aktiven Roman geschaffen hat und der Titel unterstreicht natürlich auch des Autoren Idee, das alles mit einem gehörigen Augenzwinkern zu erzählen. Das Buch ist meilenweit von der sehr ernsten und trockenen Space Operas der dreißiger und vierziger Jahre entfernt. Es ist eigentlich der einzige Roman der in Shirleys Gesamtwerk wie eine Space Opera wirkt, tief in seinem Inneren aber die Reflektion unserer heutigen Gesellschaft mit ihrer »Leben ist Kampf«-Ideologie in einer fremden Umgebung widerspiegelt. Shirley greift viele Klischees auf, um sie gleich ad absurdum zu führen: Der Führer der menschlichen Siedlung auf dem fremden Planeten ist eine lesbische Frau, die Meta sind weder gut noch böse, lassen sich in keine Kategorie einordnen, der böse Fiske ist ein extremer konservativer Machtmensch, dem mit Zero ein typischer Vertreter der Generation der achtziger Jahre gegenübersteht, die in erster Linie Spaß haben wollen. Diesem Alter war Shirley zu diesem Zeitpunkt kaum entwachsen, die erste echte Verantwortung hatte er durch die Übernahme der väterlichen Pflichten (zum Teil nur monetär, aber bei seinen Zwillingen auch als echter Vater) gelernt, ohne ganz mit diesem Druck fertigzuwerden.

Auf dem Planeten geht es allerdings alles andere als friedlich zu: Die Menschen sind immer wieder in Lebensgefahr, die verschiedenen zum Teil grotesk gezeichneten Aliens handeln unverständlich (für die Menschen) und die Gefahren bestehen unter anderem aus einer telepathischen Venusfliegenfalle oder gar einer radioaktiven Strömung, die die innersten Wünsche und Ängste der Menschen in einer grotesken Parodie verdreht.

An einigen Stellen merkt der Leser, daß Shirley noch nicht die erzählerische Reife hat, seine viele Ideen entsprechend umzusetzen und bei der Charakterisierung einiger Figuren hätte man sich etwas mehr Tiefgang gewünscht, ansonsten aber ist »A splendid Chaos« ein empfehlenswertes Buch für schöne Stunden, voller Ironie und Sarkasmus, aber tief in seinem Herzen noch vom Guten im Menschen überzeugt ist (das doch sehr moralische Ende zeigt, daß zu dieser Zeit Shirley dem Leser noch einiges mit auf den Weg geben wollte, in der späteren ECLIPSE-Trilogie geht es nur noch um das reine Erzählen/Aufklären).

Im Gegensatz zu anderen Cyberpunks beweist John Shirley schon sehr früh, daß er die dunklen regnerischen Großstädte verlassen kann, um eine Geschichte zu erzählen. Die dunkle Sonnenbrille legt er allerdings dabei nie ab.