Knaur Taschenbuch 62221
ISBN 3-426-62221-1
Titelbild von ?
März 2004, 8,90 Euro, 320 Seiten
Andres Richter wurde 1966 in Hamburg geboren, und entdeckte schon früh die Freude am Geschichtenerzählen. Seine ersten Leser fand er in Person seiner Eltern und ein weiteres Ventil beim Verfassen von Aufsätzen in der Schule. Nach dem Abitur entschloß er sich, Betriebswirtschaft zu studieren, er brach aber das Studium nach wenigen Semestern wieder ab und gründete eine eigene Haustechnikfirma und zog nach Berlin. Obwohl die Firma sich zufriedenstellend entwickelte, verspürte der junge Mann den Drang wieder zu Schreiben.
Das erste Manuskript – die ursprüngliche Fassung zu »Mobile« – verfaßte er neben seiner Tagesarbeit und bot es verschiedenen Verlagen an, die jedoch alle ablehnten. Als letzten Schritt besuchte er mit dem Manuskript unter dem Arm mutig die Frankfurter Buchmesse, aber auch das führte zu keinem Erfolg.
Um sich gänzlich von seinem bisherigen Leben zu trennen, gab er die Firma in Berlin auf und zog mit seiner Frau und seinen zwei Kindern wieder zurück nach Norddeutschland. In Ahrensburg, in der Nähe von Hamburg, baute die Familie wieder ihre Zelte auf und Richter überarbeitete seinen Text zu „Mobile“ grundlegend und sandte den Text an diverse Kleinverlage.
Einer dieser Verlage kaufte den Roman an und so erschien er im Januar 1999, heimste einige gute Rezensionen ein, aber das war es dann auch schon. Nach diesem schwierigen Anfang verschickte Andreas Richter seinen zweiten Roman wieder an die bekannten Verlage und mußte feststellen, daß die Veröffentlichung in einem unbekannten Kleinverlag nicht die Tore zu den großen Häusern öffnet. Wieder wurden die Texte zurückgeschickt und so entschloß er sich, einen anderen Weg zu gehen und suchte sich einen literarischen Agenten. Durch einen Zufall traf er auf Roman Hocke, inzwischen der Verwalter von Michael Endes literarischem Nachlaß und seine Agentur AVA. Hocke gefiel der Text, ließ Richter aber alles noch ein weiteres Mal grundsätzlich überarbeiten, bevor der Roman Anfang 2003 im Knaur-Verlag erschien. Knaur bot ihm überdies einen Vertrag für seine nächsten drei Werke an.
„Mobile“ ist die Geschichte eines alten Holzmobiles. Jahrzehnte lang lag es auf dem Boden, vergessen, unansehnlich, unauffällig, bis es ans Tageslicht geholt, sorgfältig gesäubert und über das Bett eines kleinen Jungen gehängt wird. Hier beginnt eine dramatische Geschichte um Freundschaft, Liebe, die Vergangenheit und den Kampf für eine Zukunft. Besonders die Passagen, in denen Richter sich des Jungen annimmt, bleiben in ihrer Eindringlichkeit und ihrer genauen Charakterisierung noch lange nach Abschluß der Lektüre im Gedächtnis. In der zweiten Hälfte seines Erstlings setzt er sich mit dem Begriff Freundschaft auseinander und im Showdown in London reift nicht nur in den beiden die Handlung tragenden Schulfreunden die Erkenntnis, daß der Schritt in das Erwachsenenleben nicht immer leicht ist und man die Verantwortung für seine Taten und sein Leben auch tragen muß.
„Mobile“ ist keine Horrorgeschichte, sondern der Autor beginnt mit einer alltäglichen Situation – ein altes Spielzeug wird für die eigenen Kinder gefunden – und entwickelt mit Hilfe einer guten Mischung aus akuter Bedrohung und bedrohlicher Atmosphäre einen lesenswerten Stoff der gut unterhält.
In der Entstehungsreihenfolge kommt jetzt „Friede Ihren Seelen“, doch zeitgleich erschien in der Krimireihe des „Hamburger Abendblatts“ ein Kurzkrimi, in dessen Mittelpunkt die Hamburger Eishockeymannschaft „Freezers“ steht. Seitdem Hamburg eine neue Mehrzweckhalle hat, übt die vorher zweitklassige Mannschaft einen elektrisierenden Einfluß auf die kühlen Norddeutschen aus und die moderne Halle ist gut gefühlt bei ihren Spielen. Die Idee zu dem Krimi kam Andreas Richter bei seinem ersten Besuch eines DEL-Spieles.
„Bully… Tod“ beginnt mit dem Ablösespiel Malte Krügers, der aus der Hansestadt zu den Detroit Wings wechselt. Während des Ablösespiels fällt ein Toter auf die Spielfläche, es ist der Mann, mit dem Krüger den Wechsel in die amerikanische Profiliga ausgehandelt hat. Jetzt stellt sich immer mehr die Frage, was wirklich hinter dem Transfer steht und welche Interessen inzwischen den Sport durchzogen haben. Als Hamburger Junge juckte es Richter in den Fingern, einen Roman in seiner Heimatstadt spielen zu lassen und da der Sport in jeglicher Farbe immer eine besondere Note in Hamburg hat – das reicht von Fußball mit seinen beiden Rivalen St. Pauli und dem HSV über Eishockey bis zu gekauften Handballmannschaften, die suggeriert, daß Bad Schwartau – immerhin 70 Kilometer entfernt – ein Stadtteil von Hamburg ist. Prestige, Anerkennung, die Suche nach dem schnellen Geld und die oft vergebliche Jagd, die erfolgreichen Zeiten wieder in die Stadt zu holen, bilden den Background eines kleinen, feinen und spannenden Krimis.
Inzwischen arbeitet Richter an einem weiteren Roman für den Knaur Verlag. Der vorläufige Titel ist „Todträume“. Es ist die Geschichte zweier Freunde, Julian und Thomas, die fast schon seelenverwandt sind. Als Zeichen ihrer Freundschaft lassen sie sich gegenseitig tätowieren. Einige Jahre später verstirbt Julian bei einem Verkehrsunfall und fortan erscheint er in Thomas Träumen und beginnt mit einer Reihe von unheimlichen Prophezeiungen, die alle eintreffen.
Zurück zu „Friede Ihren Seelen“. Der Knaur-Verlag unterstützt mit einer Lesetour durch verschiedene norddeutsche Buchhandlungen den jungen Autoren und unterstreicht damit tatkräftig sein Interesse an einheimischen Talenten.
Mirja und Stefan Timmers erfüllen sich einen Traum. Mit dem Geld ihres Vaters und den Kochkünsten Stefans wollen sie in einem alten Haus in Norddeutschland einen Feinschmeckertempel eröffnen. Sie unterschreiben den Notarvertrag und Stefan beginnt damit, daß Haus umbauen zu lassen, das Personal zu verpflichten – hier der erste Schönheitsfehler, denn er greift auf seine Exfreundin zurück – und schließlich alles für die große Premiere vorzubereiten. Auf der Vorfeier erleidet Mirjas Schwester einen Gehirnschlag und stirbt. Stefan hat zu erst Bedenken, daß sie an einer Lebensmittelvergiftung gestorben sein könnte, die seinen Traum von einem eigenen Restaurant schon vor der Eröffnung beendet hätte.
Im Haus selbst begegnen die Beiden mehrmals einem jungen Mädchen von vielleicht acht Jahren. Es spricht nicht mit ihnen. In der Nachbarschaft kennt sie niemand und auch bei der Polizei gibt es keine Vermißtenmeldung. Bei einem der Besuche hinterläßt sie eine alte hölzerne Sanduhr, später kommen weitere Hinweise hinzu. Nur die beiden Timmers können sie sehen.
Als ein weiteres Unglück im Restaurant geschieht, das anscheinend auch natürliche Ursachen hat, beginnt Mirja mit ihren Recherchen. Dabei stößt sie nicht nur auf eine ablehnende Haltung bei dem Mann, der ihnen das Haus verkauft hat, sondern auf einen unglaublichen Pakt, der schon vor Jahrhunderten geschlossen worden ist und dessen Auswirkungen sich immer wieder im Haus manifestiert haben. Aber nie so kraftvoll wie in den heutigen Tagen…
Andreas Richters zweiter Roman zeichnet einige interessante Konturen auf: Sowohl in „Mobile“ als auch „Friede Ihren Seelen“ steht die Schuld und daraus folgend die Sühne im Mittelpunkt der Entwicklung. In „Mobile“ haben zwei Freunde ein Spielzeug gestohlen, das die Lebenskraft aus Menschen heraussaugt. Obwohl sie die Schuld auf sich geladen haben, leidet die nächste Generation, in diesem Fall der kleine Sohn, darunter. Bei „Friede Ihren Seelen“ geht es um einen Vertrag, den eine frühere Generation in Kraft gesetzt hat und dessen Folgen jetzt auf einen Nachfahren der Verursacher ausstrahlen. In beiden Büchern gibt es keine Ausschließlichkeitsklausel. In „Mobile“ sind auch Unschuldige von der grausamen Wirkung der Spielzeuge betroffen, in seinem zweiten Roman greift die unheimliche Kraft sich einen Gast des Lokals.
Doch um das Geheimnis zu lösen, müssen zwei Menschen gemeinsamen agieren. In seinem ersten Roman zwei alte Schulfreunde, hier das Ehepaar Mirja und Stefan Timmers. Diese klassische Dualität unterstreicht Andreas Richters Intention, sich auf die Grundwerte des Lebens zu besinnen. Wahre Freundschaft, wahre Liebe, nicht die oberflächlichen Alibifunktionen, die amerikanischen Verhältnisse, in denen das Wort „friend“ für einen losen Bekannten steht. Auch wenn sich das Duo in beiden Büchern anfangs nicht einig ist, entsteht aus den unterschiedlichen Betrachtungsweisen ein Geflecht von Ideen, in dem sich die Lösung findet.
Diese Rückbesinnung auf wahre Werte (Familie, Freunde) macht die Romane von Andreas Richter sehr lesenswert und gibt dem Leser das Gefühl, in eine optimistische Welt einzudringen, deren Struktur von einer „bösen“ Macht bedroht wird, deren Grundwerte aber stimmen.
In der Beschreibung seiner handelnden Personen liegt eine der Stärken von Andreas Richter. Sowohl in „Mobile“ als auch „Friede Ihren Seelen“ leben sie. Mirja Timmers kommt als Tochter eines einflußreichen Anwalts aus gutem Hause, eine junge, selbstbewußte Frau, die plötzlich sich mit neuen Gefühlen auseinandersetzen muß: Angst und Eifersucht. Ihr Mann Stefan Zimmers hat sich aus einfachen Verhältnissen kommend zu einem begnadeten Koch hochgearbeitet, dessen Traum, ein eigenes Feinschmeckerrestaurant, mit Hilfe des voraus gezahlten Erbteils von Mirja ein Fundament erhält.
Daneben spielt Andreas ein bißchen mit den Klischees des menschlichen Zusammenlebens: Ablehnung aufgrund des äußeren Eindrucks (Sid), die ehemalige, aber bildhübsche Ex- Freundin und der weltfremde Analytiker, der aber doch am Tischtuch des Ruhmes ziehen möchte.
Die norddeutsche Landschaft mit seinen typischen alten Häusern, den uralten Bäumen, dem Wind und Wetter hat der Autor als Hamburger Kind gut im Griff. In der kurzen knappen Schilderung erzeugt er eine überzeugende Atmosphäre und der Leser fühlt sich schnell in seiner Welt heimisch.
In Bezug auf die Handlung versucht Andreas Richter den Spielraum des Mystery-Romans zu erweitern. Von der obligatorischen Vorgeschichte – ob diese hier so sinnvoll ist und den Leser nicht schnell in die entsprechende Richtung führt, steht auf einem anderen Blatt – über das verfluchte Haus, bis zur Lösung, die fast schon Fontanes klassischen Krimi „Unterm Birnbaum“ zu seinen Leben erweckt, laufen die einzelnen Elemente zu einem flüssigen Roman zusammen. Dabei gelingen ihm einige sehr gruselige Szenen. Von der Voreröffnungsfeier, über den zweiten Toten, bis zur Untersuchung der Sanduhr. Genau wie in seinem Erstling spielt eine im Grunde unscheinbare Sache eine wichtige Rolle. Wer glaubt schon, daß ein Kinderspielzeug eine unsichtbare Gefahr ausstrahlt und Sanduhren stehen nicht nur für die Zeitmessung, sondern tragen einen nostalgischen Zug in sich. Sie sind zuverlässig, gemütlich und werden heute immer noch gebraucht. Viele Spiele funktionieren ohne den Dreh an der Sanduhr nicht. Hier aber ermöglichen sie es dem Bösen, in unsere Welt einzudringen.
Der Leser darf auf keinen Fall das Buch mit einem klassischen Horror-Roman verwechseln. „Friede ihren Seelen“ ist ein Mystery-Roman, vergleichbar der klassischen Gruselgeschichte des vorletzten Jahrhunderts, in dem die dunkle Atmosphäre den Vorrang vor Gewaltorgien hat. Dabei geht der Autor auf die Tradition der „Haunted House“-Romane zurück, sucht aber einen originellen Dreh in dem inzwischen von klischeehaften Geschichten übervölkerten Genre.
An einigen Stellen kollidiert die moderne Zeit mit der Schilderung der historischen Ereignisse und es mischt sich nicht zu einer Einheit. Es ist für Richter schwierig, an einigen Stellen seiner Geschichte, die Gegenwart vor der Tür zu lassen und in die Vergangenheit des Hauses und der Familie einzutauchen. Immer wieder greift er auf verschiedene schriftstellerische Facetten, z.B. den apathischen alten Mann im Krankenhaus, die kleine Kiste mit alten Fotos, zurück, um die schwebende Gefahr weiter zu konkretisieren. Diese Passagen wirken etwas konstruiert. Außerdem stellt sich die Frage, ob Richter nicht besser auf den zu offensichtlichen Prolog verzichtet hätte. Eine ruhige Einleitung mit dem Hauskauf und den beiden sympathisch und lebensnah beschriebenen Trimmers, dann der erste Besuch im Haus und die Begegnung mit dem Mädchen hätten den Leser auch gut unterhalten, ohne eine direkte Rückkoppelung – wie es jetzt der Fall ist – zum Prolog zu vollziehen. So ist die Erwartungshaltung des Lesers zu stark auf das Mädchen gelenkt und wer sich mit dem Genre auskennt, wird hier nicht überrascht.
Traf »Mobile« durch die Bedrohung eines kleinen Jungen mitten ins Herzen des Menschen, ist „Friede ihren Seelen“ der Versuch, eine breitere Bühne zu zeichnen, auf der sich die beiden handelnden Figuren abmühen, ihren Verstand und ihre Zukunft und vielleicht auch ihr Leben zu retten. Es lohnt sich für die Leser, das Stück in Form dieses Romans in die Hand zu nehmen, sich für einige Stunden fesseln zu lassen und beim nächsten Spaziergang die alten alleinstehenden Häuser mit anderen Augen zu sehen.